Fünf Freitagsfragen an Pfarrer Curt Stauss über die jüngere deutsche Geschichte, die staatliche Obrigkeit und geistliche Begleitung im Widerstand.
Curt Stauss, geboren 1948 in Cottbus, Autoschlosserlehre, Studium in Berlin, Leipzig und Naumburg, Pfarrer, Beauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für Seelsorge und Beratung von Opfern der SED-Kirchenpolitik, Mitbegründer des Ökumenischen Instituts für Diktatur-Folgen-Beratung, engagiert seelsorgerlich und theologisch in der Vergebungsarbeit.
Rogate-Frage: Herr Pfarrer Stauss, was macht ein Beauftragter des Rates für Seelsorge und Beratung von Opfern der SED-Kirchenpolitik und wie sind Sie zu dieser Aufgabe gekommen?
Curt Stauss: Einzelberatung, Seelsorge und geistliche Begleitung, fachliche Voten und Beratung des Kirchenamtes, der Landeskirchen und von Kirchengemeinden, Kooperation mit Dienststellen beziehungsweise Behörden wie der Bundesbeauftragten und den Landesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes, psychosoziale Beratung für Betroffene von Systemunrecht und Gewaltherrschaft in der SBZ/DDR im Rahmen der Arbeit des Instituts für Diktatur-Folgen-Beratung, Zusammenarbeit mit Gedenkstätten und mit Betroffenen- beziehungsweise Opferverbänden, mit Psychotherapeut_innen und mit Forschungseinrichtungen.
Der Rat der EKD hat 1995, als die kirchliche Aufarbeitung im wesentlichen abgeschlossen war, eine Person gesucht, die für diese Fragen auch für die folgenden Jahre Ansprechpartner sein kann. Mein Auftrag ist zweimal verlängert worden und reicht bis zum Sommer 2015.
Rogate-Frage: Wie sah die SED-Kirchenpolitik aus und wie reagierte die Kirche darauf?
Curt Stauss: Die von der SED bestimmte Staatsführung der DDR hat in den 50er Jahren zunächst versucht, die kirchliche Arbeit massiv einzugrenzen: Enteignungen von kirchlichen Heimen, Verhaftung von Mitarbeitern, Verfolgung christlichen Jugendlichen. Nach einer ersten Welle bis zum Juni 1953, die nicht die erwarteten Ergebnisse brachte, wurden die Mittel subtiler: die Einführung der Jugendweihe, die schärfere Kontrolle kirchlicher Aktivitäten (Meldepflicht für fast alle Veranstaltungen, Abschaffung des Religionsunterrichts an den Schulen), atheistische Propaganda. Die Kirchen haben unterschiedlich darauf reagiert, es gab angepasste und eher widerständige Christen und unterschiedlich agierende Landeskirchen. Bis zum Ende der DDR waren die Kirchen die einzige relativ staatsunabhängige Großorganisation. Die Bindung an Christus als eine höhere Loyalität, aber auch die Beziehungen zu den westdeutschen Kirchen und zur weltweiten Ökumene machten eine Arbeit mit innerer Freiheit trotz äußeren ideologischen Druckes möglich. Im Sinne einer politischen Opposition haben die Kirchen sich nicht betätigt; aber sie haben zum Beispiel die Militarisierung der DDR-Gesellschaft nicht zuletzt in den Schulen beharrlich kritisiert, und sie haben nach Kräften Menschen, die ausgegrenzt oder verfolgt wurden, unterstützt.
Rogate-Frage: Sie gehörten zur Opposition in der DDR. Wie war zu der Zeit der Kontakt zur Landeskirche? Haben Sie Unterstützung erfahren?
Curt Stauss: Ich war Pfarrer der evangelischen Kirche, ich habe als Jugendpfarrer die Wehrdienstverweigerung von Jugendlichen und ein Netzwerk von Basisgruppen seit Ende der 70er Jahre unterstützt. Eine Szene kann diese Funktion (die wir selbst nicht als Opposition bezeichneten) schildern. Der Magdeburger Bischof wurde 1983 von einem Stasi-Offizier gewarnt: Wenn er den Landesjugendpfarrer nicht unverzüglich versetze und dessen staatsfeindliche Aktivitäten unterbinde, werde man den verhaften. Worum ging es? Der Jugendpfarrer lud regelmäßig haupt- und auch ehrenamtliche Mitarbeiter zu Fortbildungen ein, in denen sie lernten, wie sie sich vor den Aktivitäten des Staatssicherheitsdienstes schützen und widerstehen könnten. Der Bischof erwiderte, das tue der Landesjugendpfarrer doch in seinem Auftrag – aber er bat diesen dann doch rasch zu sich und fragte, was denn in diesen Kursen geschähe. Das fand er denn auch in Ordnung – und dem Landesjugendpfarrer geschah nichts! In den Stasiakten freilich war das Schulungsprogramm „5 Faustregeln für den Umgang mit Stasi“ dann nachzulesen… Aber den jungen Leuten, so erzählen sie heute noch, hat’s geholfen.
Rogate-Frage: Wie sind die Landeskirchen mit ihrer Vergangenheit im Kontext „Kirche im Sozialismus“ und der teilweisen Zusammenarbeit mit der Stasi umgegangen? Vergessen oder Aufarbeitung der Geschichte?
Curt Stauss: Die Landeskirchen haben verschiedene Wege der Aufarbeitung eingeschlagen; in der Regel waren das rechtlich geordnete Verfahren. Die Zahl der Haupt- und Ehrenamtlichen, die mit dem Staatssicherheitsdienst zusammenarbeitete, war statistisch gering (je nach Zählweise 1,5 bis 2 Prozent). Aber jeder einzelne solche Vertrauensbruch war, nicht zuletzt angesichts des Beichtgeheimnisses, eine schlimme Verletzung. Freilich ist diese Bilanz angesichts der massiven Aktivitäten der Stasi gegenüber den Kirchen insgesamt auch als Zeichen von Zivilcourage zu werten.
Nachdem seit Mitte der 90er Jahre das Thema in den Kirchen kaum noch eine Rolle spielte, ist in diesem Jahr – 25 Jahre danach – eine neue Aufmerksamkeit entstanden; auch nach der Schuld der Kirche fragt nun die nächste Generation, und dies insbesondere im Blick auf die heutige Rolle der Kirche in den zivilgesellschaftlichen Konflikten. Mit wem ist sie solidarisch? wie geht sie mit ihren Privilegien um? welches Zeugnis gibt sie im Blick auf die Leiden der natürlichen Mitwelt und die Lebenschancen der künftigen Generationen.
Die Formel ‚Kirche im Sozialismus‘ war umstritten und missverständlich; aber selbst bei den angepassteren Kirchenleuten in der DDR meinte sie nicht ‚Kirche des Sozialismus‘. Was man heute in der Öffentlichkeit kaum zu sagen wagt, da sogleich mit dem Schimpfwort ‚Linksprotestant‘ zu rechnen ist: es gab eine biblisch und theologisch begründete Nähe zu sozialen und politischen Emanzipations- und Gerechtigkeitskämpfen, die mit dem Wort ‚Sozialismus‘ verbunden wurden! Diese Kämpfe sind durch den „real-existierenden Sozialismus“ der DDR verraten worden – aber sie sind deswegen nicht falsch und gar nicht überholt.
Rogate-Frage: Was können Christen, Kirchengemeinden und die Landeskirche aus Ihrer Erfahrung mit dem SED-Staat lernen?
Curt Stauss: Wir haben Römer 13 neu lesen gelernt als kritische Solidarität mit jedem Staatswesen: seine Ordnungsaufgaben haben wir zu bejahen, wo der Staat aber Herrschaft über die Gewissen auszuüben beginnt, ist Widerstand geboten! Wir haben gelernt, auch politische Gegner als vom Gebot der Feindesliebe gemeinte Menschen zu achten. Und: die Kirchen waren dort am glaubwürdigsten, wo sie absichtslos, ohne eigene Interessen in der Gesellschaft präsent waren: als Dach für die Basisgruppen in den 70er und 80er Jahren, als Raum, der zu Gebet und Gewaltlosigkeit einlud in den Herbstwochen 1989, und mit dem Angebot der Beratung, der geistlichen Begleitung und Seelsorge für politisch Verfolgte der DDR und deren Traumatisierungen seither.
Rogate: Vielen Dank, Herr Pfarrer Stauss, für das Gespräch!
Weitere Freitagsfragen – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de
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