Der April im Rogate-Kloster: Karwoche und ökumenische Eucharistie an Ostern

Willkommen zu unseren öffentlichen Gottesdiensten in Berlin-Schöneberg im Monat April:

  • Gründonnerstag, 2. April | 19:00 Uhr, Eucharistie in der Michaelskirche, Bessemer Straße 97/101, 12103 Berlin-Schöneberg, Bus 106 (Richtung Lindenhof, Haltestelle Bessemer Straße). Orgel: Shin-Hyang Yun
  • Karfreitag, 3. April 15 | 15:00 Uhr, KREUZWEG-ANDACHT
  • Ostermontag, 6. April 2015 | 10:00 Uhr, ökumenische Eucharistie, mit der Alt-katholischen Gemeinde

    Ostermontag, 6. April 2015 | 10:00 Uhr, ökumenische Eucharistie, mit der Alt-katholischen Gemeinde, Zwölf-Apostel-Kirche

  • Dienstag, 7. April 15 | 19:00 Uhr, Vesper, das Abendgebet, Zwölf-Apostel-Kirche
  • Donnerstag, 9. April 15 | 20:30 Uhr, Komplet, das Nachtgebet, Zwölf-Apostel-Kirche
  • Dienstag, 14. April 15 | 19:00 Uhr, Vesper, das Abendgebet, danach Bibelgespräch
  • Donnerstag, 16. April 15 | 20:30 Uhr, Fürbitt-Andacht, in der Zwölf-Apostel-Kirche
  • Dienstag, 21. April 15 | 19:00 Uhr, Vesper, das Abendgebet, anschließend Mitgliederversammlung des Trägervereins, Zwölf-Apostel-Kirche
  • Donnerstag, 23. April 15 | 20:30 Uhr, Komplet, das Nachtgebet, Zwölf-Apostel-Kirche
  • Dienstag, 28. April 15 | 19:00 Uhr, Vesper, das Abendgebet, danach Bibelgespräch, Zwölf-Apostel-Kirche
  • Donnerstag, 30. April 15 | 20:30 Uhr, Meditative Andacht, Zwölf-Apostel-Kirche
  • Den April-Plan finden Sie hier.

Erreichbar ist die Zwölf-Apostel-Kirche mit öffentlichen Verkehrsmitteln über die U-Bahnhöfe: Kurfürstenstraße (U1) Nollendorfplatz (U1, U2, U3, U4). Oder per Bus: Kurfürstenstraße (M85, M48), Nollendorfplatz (M19, 187) und Gedenkstätte Dt. Widerstand (M29). PKW-Stellplätze vor dem Gemeindezentrum und in der Genthiner Straße.

Fünf Fragen an: Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg

Fünf Freitagsfragen an Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, über eine garantierte öffentliche Religionsfreiheit, eine Welt ohne Krieg und die christliche Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen.

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Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bild: Staatsministerium Baden-Württemberg)

Winfried Kretschmann wurde 1948 in Spaichingen geboren. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Er hat Biologie und Chemie für das Lehramt an Gymnasien studiert und war danach als Lehrer tätig. Er ist Gründungsmitglied der baden-württembergischen Grünen und ehrenamtlich in der römisch-katholischen Kirche engagiert. Mit einer kurzen Unterbrechung ist Kretschmann seit 1980 Mitglied im Landtag in Stuttgart. Seit 2011 ist er Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

Rogate-Frage: Herr Ministerpräsident Kretschmann, wie privat oder wie öffentlich darf und muss der Glaube sein? Ist die Religion Privatsache? Warum?

Winfried Kretschmann: Religion ist Privatsache, wenn es darum geht, dass und wie der Einzelne den staatlich freigehaltenen „Leerraum“ (Jeanne Hersch) mit seiner Freiheit füllt. Die Glaubensfreiheit ist zuvorderst ein Individualrecht. Religion verlässt aber den Raum des Privaten, wo sie als Gemeinschaft Teil der Zivilgesellschaft ist und damit für ein demokratisches Gemeinwesen und für den Staat konstitutiv wird. Unsere Verfassung enthält sich einer Bewertung der Religionen und bleibt selbst religiös neutral. Aber sie erkennt und anerkennt neben dem persönlichen eben auch den gesellschaftlichen und gesellschaftsrelevanten Charakter der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie schützt also nicht nur die individuelle Religionsfreiheit, sondern auch eine öffentliche Religionsfreiheit, in der Religionsgemeinschaften gesellschaftlich sichtbar und wirksam werden. Denn unsere Gesellschaft braucht Gemeinschaften, in denen gemeinsame Werte zum Wohle aller gelebt und in die Gesellschaft eingebracht werden.

Rogate-Frage: In unseren Tagen brennt es durch kriegerische Auseinandersetzungen und Gewalt an vielen Enden der Welt. Welche Friedenspolitik würden Sie verfolgen? Frieden schaffen ohne Waffen?

Winfried Kretschmann: Ich glaube, es gibt niemanden, der sich nicht wünschen würde, dass die Forderung „Nie wieder Krieg“ endlich weltweite Wirklichkeit würde. Eine Welt ohne Krieg und Gewalt bleibt oberstes Ziel, das wir nicht aufgeben dürfen. Aber vom paradiesischen Zustand einer friedlichen Welt sind wir leider sehr weit weg.

Aus der Geschichte wissen wir auch, dass sich Terror, Diktatur, Völker- und Massenmord sowie Krieg nicht immer mit friedlichen Mitteln verhindern oder beseitigen lassen. Demokratie, Menschenrechte und Freiheit sind Werte, die wir im Zweifel auch wehrhaft verteidigen müssen. Gerade angesichts der Tatsache, dass sich in einer globalisierten Welt militärische Konflikte und die Folgen eines immer brutaleren Terrors räumlich kaum begrenzen lassen, muss eine an sich friedliche und zivile Gesellschaft auch in der Lage sein, sich zu schützen und im Verbund der europäischen und weltweiten Staatengemeinschaft auch militärisch zu agieren.

Rogate-Frage: Nach Uno-Angaben sind derzeit 57 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, so viele wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Der Berliner Senat geht davon aus, dass in diesem Jahr 15.000 davon in der Hauptstadt ankommen werden. In der Flüchtlingspolitik ist Ihr Name in den vergangenen Monaten häufig gefallen. Was muss passieren, um ein flüchtlingsfreundlicheres Land zu werden? Welche Politik würden Sie verfolgen?

Winfried Kretschmann: Asyl für politisch Verfolgte ist ein Grundrecht. Der humane Umgang mit Flüchtlingen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die der gemeinsamen Anstrengung aller politischen Ebenen und aller zivilgesellschaftlichen Kräfte bedarf. Hier darf niemand wegschauen. Ich bin deshalb sehr dankbar dafür, dass der gesellschaftliche Konsens darüber groß ist, dass uns die Not dieser Menschen etwas angeht und wir Ihnen gegenüber eine humanitäre und erst recht christliche Verpflichtung haben.

Andererseits darf man aber auch nicht die Augen vor den praktischen Herausforderungen, zum Beispiel bei der Unterbringung, verschließen. Auch ist das Asylrecht der falsche Weg, wenn Menschen bei uns arbeiten wollen. Wenn wir das Asylrecht nicht überfordern wollen, brauchen wir humane Bleiberechtsregelungen und ein Einwanderungsrecht. Und nicht zuletzt müssen wir natürlich auch die Fluchtursachen bekämpfen.

Rogate-Frage: Sie sagen in einem Beitrag: „… wir uns jederzeit von Gott geliebt wissen dürfen. Es beschreibt die drei wichtigen Grundhaltungen vor Gott: Danken, Bitten und Loben.“ Wann kommen Sie als Politiker dazu? Wann haben Sie Zeit für Ihre Frömmigkeit, Gottesdienstbesuche und das Leben mit Gott?

Winfried Kretschmann: Ein politisches Amt bietet viele Gestaltungsmöglichkeiten, aber es fordert einen auch sehr. In der Politik sind täglich viele, auch unangenehme Entscheidungen unter großem Zeitdruck zu treffen. Umso wichtiger sind mir Zeiten, in denen ich Abstand gewinnen und innehalten kann, um mein Tun zu reflektieren und in größeren Dimensionen zu denken. Ich achte deshalb darauf, dass ich in meinem angefüllten und oft hektischen Alltag Freiräume habe, in denen ich Zeit für Anderes finde. Etwa das Hören geistlicher Musik ist für mich eine gute Brücke, den Kopf frei für das Wort Gottes zu bekommen. Und wenn immer es geht, gehe ich an den Sonn- und Feiertagen in die Kirche, um mit der Gemeinde Eucharistie zu feiern.

Rogate-Frage: Kritische Christen waren eine der Quellen der Grünen. Welches Ansehen haben Gläubige, Glaube und die Kirche heute in Ihrer Partei? Und warum?

Winfried Kretschmann: Ich denke, viele Menschen sehen, dass grün und Christ sein gut zusammenpasst. Bei der Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg wurde erhoben, dass von den Grünen-Wählern 30 Prozent der katholischen, 39 Prozent der evangelischen und 24 Prozent keiner Konfession angehören. Das entspricht in etwa auch der Verteilung der Gesamtwählerschaft. Das Ergebnis zeigt, dass die grüne Partei als aufgeschlossen gegenüber allen Bekenntnissen oder auch Nicht-Bekenntnissen wahrgenommen wird.

Die Grünen verstehen sich aber nicht als christliche, sondern als eine werteorientierte Partei. Und hinsichtlich ihrer Werteorientierung gibt es tatsächlich viele Berührungspunkte und gemeinsame Themen mit den Christen: Bewahrung der Schöpfung, Gentechnik, Inklusion, Solidarität, Entwicklungshilfe, Friedenspolitik, Flüchtlingspolitik, Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit… Hier befruchten sich grüne und christliche Wertvorstellungen gegenseitig. Es gab und gibt deshalb bei den Grünen ganz selbstverständlich kirchennahe Strömungen, aber eben auch distanzierte beziehungsweise kritische. So gibt es bei den Grünen natürlich auch Stimmen, die das bisherige Staat-Kirche-Verhältnis anfragen und sich hier Weiterentwicklungen wünschen – bis hin zu manchen, die eine stärkere Trennung fordern.

Rogate: Vielen Dank, Herr Ministerpräsident, für das Gespräch!

Weitere Informationen über Ministerpräsident Kretschmann finden Sie hier: stm.baden-wuerttemberg.de

Weitere Freitagsfragen – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de

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Willkommen zu unseren öffentlichen Gottesdiensten:

  • Sonnabend, 28. März 2015 | 18:00 Uhr, ökumenische Vesper in der Kirche, mit der Alt-katholischen Gemeinde, Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, 10783 Berlin-Schöneberg
  • Sonntag Palmarum, 29. März 15 | 10:00 Uhr, Gottesdienst in der Michaelskirche, Bessemer Straße 97/101, 12103 Berlin-Schöneberg, Bus 106 (Richtung Lindenhof, Haltestelle Bessemer Straße)
  • Findet trotz Sturmes statt: Dienstag, 31. März 15 | 19:00 Uhr, Vesper in der Michaelskirche, Bessemer Straße 97/101, 12103 Berlin-Schöneberg, Bus 106 (Richtung Lindenhof, Haltestelle Bessemer Straße). Orgel: Manuel Rösler.
  • Gründonnerstag, 2. April | 19:00 Uhr, Eucharistie in der Michaelskirche, Bessemer Straße 97/101, 12103 Berlin-Schöneberg, Bus 106 (Richtung Lindenhof, Haltestelle Bessemer Straße). Orgel: Shin-Hyang Yun.
  • Karfreitag, 3. April 15 | 15:00 Uhr, KREUZWEG-ANDACHT, Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, 10783 Berlin-Schöneberg
  • Ostermontag, 6. April 15 | 10:00 Uhr, ökumenische Eucharistie, mit der Alt-katholischen Gemeinde, Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, 10783 Berlin-Schöneberg
  • Dienstag, 7. April 15 | 19:00 Uhr, Vesper, das Abendgebet, Zwölf-Apostel-Kirche
  • Donnerstag, 9. April 15 | 20:30 Uhr, Komplet, das Nachtgebet, Zwölf-Apostel-Kirche
  • Unseren März-Plan finden Sie hier. Den April-Plan hier.

Fünf Fragen an: Manfred Gailus, Zentrum für Antisemtismusforschung an der TU Berlin

Fünf Freitagsfragen an Manfred Gailus, außerplanmäßiger Professor im Zentrum für Antisemtismusforschung an der TU Berlin, über die Anfälligkeit der Protestanten für den Nationalsozialismus, eine „Synagoge am Nollendorfplatz“ und ihre gespaltene Gemeinde.

MANFRED GAILUSManfred Gailus, geboren in Winsen/Luhe (Niedersachsen), studierte Geschichtswissenschaft und Politischen Wissenschaften an der FU Berlin. 1988 Promotion zum Dr. phil. an der TU Berlin. 1999 ebenda Habilitation. Seine Forschungsschwerpunkte sind:  Sozialer Protest und soziale Bewegungen, Politik- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte des Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, Protestantismus und Nationalsozialismus, Antijudaismus und Antisemitismus sowie Religionsgeschichte im 20. Jahrhundert.

Rogate-Frage: Herr Professor Gailus, was machte die Protestanten so anfällig für die Ideologie der Nationalsozialisten und warum haben bei den Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 in fast allen Kirchengemeinden die „Deutschen Christen“ (DC) die Mehrheit gewonnen?

Manfred Gailus: Die große Anfälligkeit der Protestanten resultierte vor allem aus ihrer starken Neigung zum Nationalismus; spätestens im Ersten Weltkrieg war ein großdeutscher Nationalismus zur zweiten, politischen Religion der deutschen Protestanten geworden. Das Völkische empfanden sie als sehr attraktiv, dort schlossen sie sich an. Gegen Ende der Weimarer Republik gingen dann die protestantischen Optionen von der stark schrumpfenden DNVP zur NSDAP über. Das Jahr 1933 empfanden sie als eine religiös-politische Erweckung und fügten sich vielfach freudig ein in den „nationalen Aufbruch“.

Rogate-Frage: Große Teile der Berliner Pfarrerschaft wollten eine völkische Umwandlung. Was hat die Mehrheit der evangelischen Pfarrer der Berliner Kirche dazu getrieben? Und warum waren römisch-katholische Priester weniger anfällig für diese Ideologie?

Manfred Gailus: Was generell für die Protestanten zutraf, das lässt sich allemal für die evangelischen Theologen, die Pfarrer, sagen. Als Deutsche Christen waren sie auf doppelte Weise gläubig – Christen waren sie und wollten sie bleiben, zugleich glaubten sie an Hitler und den Nationalsozialismus als wahre Erlösung der leidgeprüften Deutschen. Katholiken, insbesondere Priester, waren Bestandteil der von Rom aus geleiteten, übernationalen Weltkirche. Politischer Nationalismus hatte hier wenig Geltung. In der streng hierarchisch aufgebauten katholischen Kirche konnte sich eine Massenbewegung wie die Deutschen Christen nicht ausbreiten. Es gab zwar auch einige „braune Priester“, aber im Vergleich mit den Protestanten blieb ihr Anteil verschwindend gering. Das schloss nicht aus, dass in rein katholischen Regionen wie Süd- und Südwestdeutschland die katholische Bevölkerung ebenfalls weitgehend am NS teilnahm und mitmachte, siehe München!

Rogate-Frage: Die Schöneberger Zwölf-Apostel-Kirche wurde in Nazi-Kreisen auch „Synagoge am Nollendorfplatz“ genannt. Warum?

Manfred Gailus: Dieser Name resultierte aus dem Wirken von Pfarrer Adolf Kurtz und seiner „nichtarischen“ Ehefrau; sie zeigten viel Zuwendung gegenüber den Verfolgten, so dass das Pfarrhaus Kurtz für ganz Berlin den Ruf erhielt: hier erhalten Juden und andere „Nichtarische“ Hilfe. Es lassen sich eine Reihe von Beispielen für diese Hilfe aufzählen, das wird Hartmut Ludwig in seinem Vortrag sicher berichtet haben. „Synagoge am Nollendorfplatz“ war für die Nazis ein herabwürdigender Spottbegriff, um diese – in ihren Augen unerwünschten – Tätigkeiten zu denunzieren.

Rogate-Frage: Sie sagten in einem Vortrag, dass es sich bei Zwölf-Apostel um eine „gespaltene Gemeinde“ handelte. Wie war es möglich, dass überhaupt Widerstand deutlich wurde. Wie konnte man im Nationalsozialismus in dieser Kirchengemeinde offen streiten, wo doch der Staat auf der Seite der Deutschen Christen stand?

Manfred Gailus: „Gespaltene Gemeinde“ war die Gemeinde, weil die zwei Richtungen – Deutsche Christen und Bekennende Kirche (BK) – hier präsent waren und gegeneinander um Geltung und Vorherrschaft stritten. Die Haltung der BK bedeutete nicht Widerstand gegen den Nationalsozialismus, sondern Opposition in der Kirche gegen den Machtanspruch der Deutschen Christen, die man als Häretiker, als Irrlehrer, ansah. Gespalten war auch das evangelische Berlin insgesamt durch diesen Kirchenstreit, so dass die Verhältnisse der Zwölf-Apostel-Gemeinde das Geschehen in der Reichshauptstadt insgesamt widerspiegeln.

Rogate-Frage: Sie beschreiben die Sicht der meisten Protestanten kurz vor dem Beginn der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 so: „Verbreitete Ängste vor Überfremdung, vor den Folgen angeblich schrankenloser Freiheit und Verweltlichung, vor dem Verfall von Glaube, Moral und Sitte, eine drohende Vorherrschaft der so genannten „Gottlosen“ – alles dies gehörte zu den Grundmustern konservativ-kirchlicher Wahrnehmung in einer dynamischen Metropole wie Berlin um 1930.“ Inwiefern ist diese Sicht nicht auch ähnlich mit dem Weltbild von christlichen Fundamentalisten, Populisten und Protestwählern unserer Tage?

Manfred Gailus: Ja, manche Ähnlichkeiten könnte man wohl sehen, aber heute sind es doch Minoritäten, kleinere Gruppen, die sich so stark von Überfremdung, Säkularisierung et cetera bedroht fühlen. Um 1930 dachte die gesamte Kirche – von wenigen Ausnahmen abgesehen – so oder ähnlich. Heute haben wir – Gott sei Dank – eine ganz andere Kirche. Sie macht nicht bei Pegida mit, sondern stellt sich mit anderen gegen Pegida und gegen die gefährlichen Ressentiments, die durch solche aktuellen Bewegungen bedient werden.

Rogate: Vielen Dank, Herr Prof. Gailus, für das Gespräch!

Weitere Informationen: Zentrum für Antisemtismusforschung an der TU Berlin sowie über Manfred Gailus hier: manfred-gailus.de.

Weitere Freitagsfragen – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de

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Willkommen zu unseren öffentlichen Gottesdiensten in der gastgebenden Ev. Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, 10783 Berlin-Schöneberg:

  • Dienstag, 24. März 15 | 19:00 Uhr, Vesper. Wir beten für die Opfer des Absturzes von 4U9525‬ und ihre Angehörigen. Später dann unser Bibelgespräch.
  • Donnerstag, 26. März 15 | 20:30 Uhr, Meditative Passionsandacht, in der Kapelle
  • Sonnabend, 28. März 2015 | 18:00 Uhr, ökumenische Vesper in der Kirche, mit der Alt-katholischen Gemeinde
  • Sonntag Palmarum, 29. März 15 | 10:00 Uhr, Gottesdienst in der Michaelskirche, Bessemer Straße 97/101, 12103 Berlin-Schöneberg, Bus 106 (Richtung Lindenhof, Haltestelle Bessemer Straße)
  • Unseren März-Plan finden Sie hier. Den April-Plan hier.

Fünf Fragen an: Dagmar Wegener, Pastorin der Baptistischen Gemeinde Schöneberg

Fünf Freitagsfragen an Gemeindepastorin Dagmar Wegener, Baptisten Schöneberg, über die Identität ihrer Freikirche, Alltagsspiritualität und das freie Gebet.

Pastorin Dagmar WegenerDagmar Wegener kommt ursprünglich aus dem hohen Norden. Sie studierte Pädagogik und Theologie. Sie engagiert sich für die Frage, wie Kirche im 21. Jahrhundert sein sollte, damit sie relevant für die Menschen ist.

Rogate-Frage: Frau Pastorin Wegener, was macht eine baptistische Identität aus?

Dagmar Wegener: Baptistinnen und Baptisten sind Menschen, die sich der Freiheit verpflichtet fühlen. Wir als Freikirche haben uns einige Grundsätze gegeben, die wir immer wieder neu buchstabieren lernen müssen. Diese Grundsätze waren von Anfang an davon geprägt, dass alle Menschen frei sein sollen, selbst zu entscheiden. Darum taufen wir zum Beispiel keine Babys. Für uns war außerdem wichtig, dass Kirche und Staat getrennt sind. Darum bezahlen unsere Mitglieder keine Kirchensteuer. Wir finanzieren uns also ausschließlich von Spenden. Auch hier spielt die Freiheit eine große Rolle. Alle können entscheiden, ob und wie viel sie geben wollen oder können. Es gibt sogenannte baptistische Prinzipien, auf die sich die meisten baptistischen Gemeinden beziehen würden. Diese aber werden jedoch unterschiedlich interpretiert und ausgelegt.  Auch hier gibt es kein Dogma, wie etwas zu handhaben ist. Das führt dazu, dass unsere Gemeinden sehr unterschiedlich sind. Es gibt sehr konservative Gemeinden und sehr offene.

Ich persönlich würde mich den folgenden Prinzipien zuordnen. Diese haben wir mit einer Gruppe von Menschen entwickelt, die sich „Kirche 21“ nennt. Diese Gruppe beschäftigt sich damit, wie wir Kirche im 21. Jahrhundert sein können.

– Baptistinnen und Baptisten sind Menschen, die als an Jesus Christus Gläubige – das schließt alle ein, die sich als Glaubende verstehen – unmittelbar mit Gott verbunden sind und untereinander gleichwertig sind. In ihrer Gemeinschaft sind alle Ämter und Funktionen gleichwertig und stehen allen offen.
– Baptistinnen und Baptisten sind Menschen, sich in selbstständigen Gemeinschaften lokal organisieren und sich regional und weltweit vernetzen.
– Baptistinnen und Baptisten sind Menschen, die Zuwendung Gottes zum Menschen, die Versöhnung mit Gott feiern und Menschen taufen, die ihren Glauben an Jesus Christus aus freiem Willen bekennen.
– Baptistinnen und Baptisten sind Menschen, die Bibel als Gottes Wort in Menschenwort verstehen und ihren Glauben und ihr Leben allein an ihr orientieren.
– Baptistinnen und Baptisten sind Menschen, als Gemeinschaft der Glaubenden am Wirken Gottes in der Welt teilhaben, indem sie durch ihr Leben die Güte Gottes vermitteln und sich für Gerechtigkeit einsetzen.
– Baptistinnen und Baptisten sind Menschen, sich für die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Religionsausübung einsetzen und für die Trennung von Kirche und Staat eintreten.  … von Gott zur Freiheit berufen sind und in Verantwortung vor Gott und ihrem eigenen Gewissen Jesus nachfolgen!
Nicht alle Baptistinnen und Baptisten würden diese Prinzipien mit mir teilen. Auch das ist Teil der Freiheit.

Rogate-Frage: Wie würden Sie einem Lutheraner oder Katholiken die Spiritualität Ihrer Kirche und Ihres Glaubens erklären?

Dagmar Wegener: Bei uns gibt es eine starke Alltagsspiritualität. Die Menschen bemühen sich um ein intensives eigenes Bibelstudium und ein intensives Gebetsleben. Der Glaube soll jeden Tag gelebt werden, nicht nur am Sonntag. Er soll das prägendes Element des Handelns und Denkens sein. So sieht zumindest das Idealbild einer persönlichen Spiritualität bei uns aus. In unserer Kirche gesamt gibt es auch in der Frage nach der Spiritualität keine einheitliche Antwort. Eine einheitliche Liturgie gibt es nicht. Jede Gemeinde ist frei, ihren Gottesdienst so zu gestalten, wie sie will.
In unserer Gemeinde hier in Berlin-Schöneberg gibt es in den Gottesdiensten Textlesungen, Gemeindegesang, Vortragslieder, eine Predigt, einen Segen, das Vaterunser und alles, was es in den meisten anderen Kirchen auch gibt. Der Grundton ist aber bei den meisten Elementen lockerer und flexibler als in den meisten anderen Kirchen.
Als baptistische Gemeinden kennen wir keine Sakramente und keine Ämterhierarchie. Darum dürfen alle das  Abendmahl ausgeben, alle taufen und alle predigen. Auch das ist wichtig für unsere Spiritualität. Es gibt bei uns auch Menschen, die besonders als Pastorinnen und Pastoren ausgebildet werden, diese haben aber nicht mehr Rechte oder Pflichten als andere. Sie haben eine theologische Ausbildung und nutzen diese auch. So werden Predigten in unseren Gemeinde oft von den Pastorinnen oder Pastoren gehalten, aber vom Grundsatz her haben sie keine besondere klerikale Rolle.

Rogate-Frage: Die Taufe hat eine besondere Ausprägung bei Ihnen. Wie verhält es sich mit dem Gebet im Gottesdienst und im Alltag?

Dagmar Wegener: Wie schon gesagt: Das Gebet im Alltag ist sehr wichtig bei uns. Viele Baptistinnen und Baptisten beten frei, ohne vorgefasste Gebete. Wir formulieren selbst, was wir Gott sagen wollen. Das ist auch im Gottesdienst so. Es ist eher selten bei uns, dass ein Gebet vorformuliert ist. In manchen Gemeinden gibt es einen Punkt im Gottesdienst, an dem die Menschen, die zum Gottesdienst kommen, gebeten werden, ihre Gebete laut für alle zu formulieren. Gebetsgemeinschaften im Gottesdienst sind also oft bei uns üblich.

Rogate-Frage: Welche Verhältnis hat Ihre Kirche zu geistlichen Gemeinschaften, Klöstern und Kommunitäten?

Dagmar Wegener: In unserer Tradition gibt es keine ausgeprägte klösterliche Ausrichtung. Es gibt bei uns Menschen, die sich zu geistlichen Gemeinschaften zusammen schließen. Auch besuchen viele von uns Klöster, um zur Ruhe zu kommen und Stille zu erleben.

Rogate-Frage: Was ist das Besondere an Ihrer Schöneberger Gemeinde?

Dagmar Wegener: Die Schöneberger Gemeinde ist eine Gemeinschaft, die für alle Menschen offen ist. Wir haben einen Claim und ein Logo, die das deutlich machen. Der Claim lautet „Bei Gott sind alle willkommen. Alle.“ und unser Logo zeigt einen Menschen mit ausgebreiteten Armen. Diese Figur symbolisiert erstmal Jesus Christus, der mit ausgebreiteten Armen alle willkommen heißt. Und diese Figur sind wir alle, die wir Jesus Christus hinterher gehen.
Wenn man genau hinschaut, sieht man bei unserem Logo, dass es immer andere Personen sind, die da mit ausgebreiteten Armen stehen. Die ganze Vielfalt unserer Gemeinde wird hier deutlich. Wir alle zeigen Jesus Christus in dieser Welt und heißen alle willkommen. Das Besondere an unserer Gemeinde ist die Vielfalt, würde ich sagen.

Rogate: Vielen Dank, Frau Pastorin Wegener, für das Gespräch!

Mehr über die Baptisten in Schöneberg finden Sie hier: baptisten-schoeneberg.de

Weitere Freitagsfragen – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de

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Willkommen zu unseren öffentlichen Gottesdiensten in der gastgebenden Ev. Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, 10783 Berlin-Schöneberg:

  • Dienstag, 17. März 15 | 19:00 Uhr, VESPER in der Kirche, anschließend Rogate-Abend zur Lage und Leben der Christen im Orient, Kleiner Saal. Referent: Matthias Disch.
  • Donnerstag, 19. März 15 | 20:30 Uhr, Meditative Passionsandacht, in der Kapelle
  • Dienstag, 24. März 15 | 19:00 Uhr, Vesper, das Abendgebet, danach Bibelgespräch
  • Donnerstag, 26. März 15 | 20:30 Uhr, Meditative Passionsandacht, in der Kapelle
  • Sonnabend, 28. März 2015 | 18:00 Uhr, ökumenische Vesper in der Kirche, mit der Alt-katholischen Gemeinde
  • Sonntag Palmarum, 29. März 15 | 10:00 Uhr, Gottesdienst in der Michaelskirche, Bessemer Straße 97/101, 12103 Berlin-Schöneberg, Bus 106 (Richtung Lindenhof, Haltestelle Bessemer Straße)
  • Dienstag, 31. März 15 | 19:00 Uhr, Vesper in der Michaelskirche, Bessemer Straße 97/101, 12103 Berlin-Schöneberg, Bus 106 (Richtung Lindenhof, Haltestelle Bessemer Straße)
  • Gründonnerstag, 2. April | 19:00 Uhr, Eucharistie in der Michaelskirche, Bessemer Straße 97/101, 12103 Berlin-Schöneberg, Bus 106 (Richtung Lindenhof, Haltestelle Bessemer Straße)

Fünf Fragen an: Helge Klassohn, Beauftragter für Vertriebene und Heimatvertriebene der EKD

Fünf Freitagsfragen an Kirchenpräsident i.R. Helge Klassohn, EKD-Beauftragter für Vertriebene und Heimatvertriebene, über den Verlust und Schmerz der eigenen Heimat und die zum Himmel schreiende Situation heutiger Flüchtlinge.

Kirchenpräsident i.R. Helge Klassohn

Helge Klassohn wurde 1944 in Riga, Lettland, geboren. Nach der Flucht verbrachte die Familie erste Jahre in Groß Kreutz bei Brandenburg und wohnte seit 1953 in Mahlow bei Berlin. Von 1958-1961 besuchte Helge Klassohn das Gymnasium in Berlin-Mariendorf. Nach dem Mauerbau 1961 war Klassohn in den Staatlichen Museen zu Berlin tätig, 1963 folgten das Abitur an der Berliner Abendhochschule und die Kriegsdienstverweigerung. 1963-1968 studierte Klassohn Theologie an der Humboldt-Universität Berlin, 1968/69 war er Vikar in Berlin-Friedrichsfelde. 1969/70 absolvierte er das Predigerseminar in Wittenberg. Nach dem II. Examen war er Pastor im Hilfsdienst in Schönfeld/Uckermark und von 1971-1975 Assistent für Praktische Theologie an der Greifswalder Theologischen Fakultät. 1975-1989 war Klassohn Pfarrer und nebenamtlicher Klinikseelsorger (Ausbildung zum Klinikseelsorger) in Teupitz, Kreis Königs-Wusterhausen, sowie mehrere Jahre Kreisjugendpfarrer. Von 1994 bis 2008 dann Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts. 1997-2004 war Klassohn Präsident der Evangelischen Haupt-Bibelgesellschaft im Bereich der EKU (UEK), 1998-2000 Vorsitzender des Rates der EKU, seit 1996 Vorsitzender der AG der Leitenden Geistlichen-Ost der EKD, seit 1995 Stellvertretender Vorsitzender des Arbeitsausschusses der Kirchenkonferenz der EKD. Seit 2007 ist Helge Klassohn Beauftragter des Rates der EKD für Fragen der Spätaussiedler und der Heimatvertriebenen.

Rogate-Frage: Herr Kirchenpräsident i.R. Klassohn, Sie sind EKD-Beauftragter für Vertriebene und Heimatvertriebene. Wie kommt man zu solch einer Beauftragung und welche Aufgaben beinhaltet sie?

Helge Klassohn: Der Rat der EKD beruft Beauftragte für ganz unterschiedliche Aufgabengebiete, um die Position der EKD in diesen Bereichen kirchlicher Arbeit auch in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Ich wurde noch in der Zeit meines aktiven Dienstes als Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts im Jahre 2007 zum „Beauftragten des Rates der EKD für Fragen der Spätaussiedler und Heimatvertriebenen“ berufen, um als „Gesicht und Stimme der EKD“ unter anderem die Vertretung der EKD gegenüber den (insbesondere russlanddeutschen) Spätaussiedlern und den deutschen Heimatvertriebenen und ihren Organisationen wahrzunehmen, die Anliegen der Aussiedlerseelsorge der EKD, der evangelischen Spätaussiedler und Heimatvertriebenen aufzunehmen und mit der Aussiedlerseelsorge der EKD, ihrer Gliedkirchen und der Aussiedlerseelsorge der anderen christlichen Kirchen sowie den zuständigen staatlichen Institutionen in Deutschland entsprechend zusammenzuarbeiten. Zu meinen Aufgaben als Beauftragter gehören die Übernahme von Predigtdiensten, Vorträgen und so weiter. Bei zentralen und gemeindlichen Veranstaltungen, die Mitgliedschaft in Vorständen und Beiräten, die Abgabe öffentlicher Erklärungen, die Koordination von Aktivitäten und Initiativen wie auch die Bereitschaft zu persönlichen (seelsorglichen) Besuchen und Gesprächen.

Rogate-Frage: Sie selbst wurden 1944 in Riga geboren. Ihre Familie flüchtete mit Ihnen als Sie Kleinkind waren. Wie sehr prägte Flucht und Vertreibung Ihre und die Geschichte Ihrer Familie?

Helge Klassohn: Den Verlust der baltischen Heimat infolge des Hitler-Stalin-Paktes 1939, in der ihre Vorfahren viele Jahrhunderte gelebt hatten, die traumatischen Erlebnisse bei der aufgenötigten Umsiedlung nach Polen, den Tod meiner Schwester, die kurze Rückkehr nach Riga in den Jahre 1942-44, die Flucht von dort über Polen nach Deutschland 1944/45, den nie aufgeklärten Tod von nächsten Angehörigen in von der Roten Armee „überrollten“ Trecks und das Elend der ersten Hungerjahre in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands haben meine Eltern nie verwunden. Zu einer erneuten Flucht in den Westen fehlte die Kraft. Die schrecklichen Kriegserfahrungen wurden in der Familie wieder und wieder erinnert und besprochen. Sie durften in der DDR-Gesellschaft aber nicht nach außen dringen, da gerade die sogenannten „Umsiedler“ den sowjetischen „Freunden“ nichts vorhalten durften. So bin ich in einer starken emotionalen Distanz zum gesellschaftlichen Umfeld und zugleich in der familiär liebevoll gepflegten Erinnerung an das Leben im früheren Baltikum aufgewachsen. Mein Vater stammte aus Kurland, dem westlichen Teil Lettlands, meine Mutter stammte aus Livland, dem nordöstlichen Tei Lettlands. Beide hatten in Riga gearbeitet, meine Mutter als Lehrerin, mein Vater als Journalist.

Rogate-Frage: Was ist aus Ihrer Sicht „Heimat“? Wo sind Christen zu Haus? Wo ist ihre eigene Heimat? Ein Ort Ihrer Biografie, also Riga, Brandenburg, Berlin, Vorpommern, Anhalt?

Helge Klassohn: „Heimat“ beschreibt für mich die emotionale Bindung an eine von Kindheit an vertraute Landschaft, an vertraute Orte und an in Sprache und Verhalten vertraute Menschen. Die Zugehörigkeit zur „Heimat“ wird als selbstverständlich empfunden, braucht nicht begründet zu werden und ist Teil der persönlichen Identität. Der mit Flucht und Vertreibung verbundene Verlust der Heimat konnte als ungerecht empfundene, tief verletzende und identitätsgefährdende Kränkung bis heute in den Familien nur schwer verarbeitet werden. Die Schatten bleiben lange. Vielen Kindern und Enkeln der vom Heimatverlust Betroffenen würde es schwerfallen, die Orte ihrer Kindheit und Jugend mit dem Begriff „Heimat“ zu beschreiben. Etwas ist da fraglich geblieben. Zwar empfinde ich, durch Herkunft und familiäre Geschichte bedingt, eine gewisse Zuneigung für Lettland und meine Geburtsstadt Riga, würde sie aber genauso wenig wie meine anderen Lebens- und Dienstorte als „meine Heimat“ bezeichnen können. Am nächsten steht mir die Mark Brandenburg, in der ich aufgewachsen bin, mit ihrer Landschaft, ihren Menschen und deren Sprache, wobei sich auch zu Anhalt in 14 Jahren Dienstzeit eine besondere Beziehung entwickelt hat. Der Wechsel von einem Lebensort zum anderen ist mir nie schwer gefallen. Man mag darin eine Auswirkung der frühen Fluchterfahrungen und des familiären Heimatverlustes sehen. Für mich wurden durch den Evangelischen Kindergarten, durch Kindergottesdienst, „Christenlehre“ (= gemeindliche religiöse Unterweisung), Konfirmation, Posaunenchor und „Junge Gemeinde“ (gemeindliche Jugendarbeit) Glauben und Leben der evangelischen Kirche zur „inneren Heimat“. Sowohl für die deutschen Heimatvertriebenen als auch für die russlanddeutschen Spätaussiedler war die Möglichkeit zur Beheimatung in Glauben und Leben ihrer Kirche am neuen Ort eine große Hilfe bei der Bewältigung des Heimatverlustes und bei der Integration in die neuen Verhältnisse.

Rogate-Frage: Die Beauftragung für Vertriebene und Heimatvertriebene ist eng mit der deutschen Geschichte verbunden. In den vergangenen Jahren sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor. Müsste man Ihren Auftrag nicht erweitern, den Begriff der Heimatvertriebenen neu denken und insbesondere Vertriebene unserer Tage in den Blick nehmen?

Helge Klassohn: Sie haben Recht, die Flüchtlings- und Kriegssituation unserer Tage schreit zum Himmel. In der EKD und in den einzelnen evangelischen Landeskirchen gibt es seit langem schon eine Zuordnung der Aussiedler- und Vertriebenenseelsorge zum Aufgabenfeld der kirchlich-diakonischen Migrations- und Flüchtlingsfürsorge. Entwicklungsdienst, Katastrophenhilfe und die Aktion „Brot für die Welt“ der Evangelischen Kirche arbeiten dabei eng mit den entsprechenden Einrichtungen der katholischen Kirche und der Freikirchen zusammen. Dabei gibt es natürlich eine gewisse Arbeitsteilung, aber auch Gesamtkonferenzen und gemeinsame Aktionen. Auch die deutschen Heimatvertriebenen und Spätaussiedler selbst zeigen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung eine besondere Sensibilität für das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen unserer Tage und beteiligen sich vor Ort oder zentral an entsprechenden Hilfsaktionen. Die erinnerungspolitischen Diskussionen über das Gesamtkonzept der von der Bundesstiftung “Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ unter der Beteiligung auch von polnischen und tschechischen Fachleuten in Berlin geplanten Dauerausstellung haben meines Erachtens. gezeigt, dass der Zuschnitt meiner Beauftragung zur Zeit durchaus noch sinnvoll ist. Ich gehöre für die EKD auch dem Stiftungsrat dieser Bundesstiftung an.

Rogate-Frage: Auch die Heilige Familie musste fliehen, suchte Schutz in einem anderen Land. Flucht und Vertreibung ist mehrfach Thema in der Heiligen Schrift. Erwächst daraus für Christen eine Verpflichtung? Wenn ja, welche?

Helge Klassohn: Die gastliche Aufnahme von Fremden und Flüchtlingen, der Schutz ihrer Rechte und ihrer Würde sind nach Auffassung der Heiligen Schrift von Gott geboten (2. Mose 23,9; 5. Mose 10,18; 27,19; Ps 146,9; Sach 7,10; Mal 3,5). Darum kann und darf uns Christen das Schicksal von Flüchtlingen und Vertriebenen in unserem Land und in anderen Ländern unserer Welt nicht gleichgültig sein. Wir haben daher die Pflicht, sowohl gegen die Ursachen von Kriegen, von Vertreibungen und von Flucht vorzugehen indem wir beharrlich für soziale Gerechtigkeit, für die Überwindung von Armut und religiösem Fanatismus und für friedliche Konfliktlösungen eintreten, als auch in unserem Land für eine menschenwürdige, sozial angemessene und gerechte Behandlung von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Zuwanderern, bis hin zur Gewährung von Kirchenasyl mit Rat und Tat sorgen. Deutschland ist schon seit langem ein „Einwanderungsland“. Was uns fehlt, ist nicht der europaweite Ausbau von Zuwanderungsbeschränkungen, sondern eine klare, gesellschaftlich gründlich diskutierte Einwanderungsgesetzgebung, die sowohl die Rechte und Pflichten der Einwanderer als auch die guten, menschenrechtlich verantworteten Intentionen unserer aufnehmenden Gesellschaft plausibel formuliert. Um dahin zu kommen, bedarf es auch einer großen zivilgesellschaftlichen Anstrengung. Hinzu kommt noch die angesichts des aktuellen weltweiten Kriegs- und Flüchtlingselends auf der Hand liegende gesamtgesellschaftliche Verpflichtung zur schnellen und gesetzlich geregelten Aufnahme von einer großen Zahl von Flüchtlingen im Sinne der Nothilfe und des weltweit geradezu lebensnotwendigen „Lastenausgleichs“. Angesichts der übergroßen Nöte fehlt mir zur Zeit ein im Lichte von Gottes Wort gesprochenes, klärendes und ermutigendes Wort der Kirchen in unserem Lande, so wie wir es von Papst Franziskus auf Lampedusa gehört haben und ähnlich wie es die Kirchen vor 20 Jahren zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im damaligen Deutschland („Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“) auch im Hinblick auf die biblisch gebotene „Option für die Armen“ schon formuliert haben.

Rogate: Vielen Dank, Herr Kirchenpräsident i.R. Klassohn, für das Gespräch!

Weitere Informationen finden Sie hier: ekd.de

Weitere Freitagsfragen – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de

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Willkommen zu unseren öffentlichen Gottesdiensten in der gastgebenden Ev. Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, 10783 Berlin-Schöneberg:

  • Dienstag, 10. März 15 | 19:00 Uhr, VESPER, das Abendgebet, danach Bibelgespräch
  • Donnerstag, 12. März 15 | 20:30 Uhr, DIE SIEBEN WORTE JESU AM KREUZ, Andacht
  • Dienstag, 17. März 15 | 19:00 Uhr, VESPER in der Kirche, anschließend Rogate-Abend zur Lage und Leben der Christen im Orient, Kleiner Saal. Referent: Matthias Disch.
  • Donnerstag, 19. März 15 | 20:30 Uhr, Meditative Passionsandacht, in der Kapelle
  • Dienstag, 24. März 15 | 19:00 Uhr, Vesper, das Abendgebet, danach Bibelgespräch
  • Donnerstag, 26. März 15 | 20:30 Uhr, Meditative Passionsandacht, in der Kapelle
  • Sonnabend, 28. März 2015 | 18:00 Uhr, ökumenische Vesper in der Kirche, mit der Alt-katholischen Gemeinde

Rogate-Abend: Vesper und Vortrag zur Lage und Leben der Christen im Orient @RogateKloster

Vesper und Vortrag zur Lage und Leben der Christen im OrientSeit zweitausend Jahren ist christliches Leben im Orient lebendig. Die Kirchen im Mittleren Osten – etwa im Irak, Syrien, Libanon und der Türkei zählen zu den ältesten Gemeinden des Christentums. Mit ihrem Leben an der Quelle der Christentums, ihrem reichen liturgischen Schatz, mit ihrem Bewahren des Glaubens in Jahrhunderten der Verfolgung haben sie uns vieles zu geben.

Durch die katastrophale Lage in vielen Ländern dort, bedroht von Tod und Vertreibung, sind die Christen im Orient in der letzten Zeit mehr in den Fokus unserer Aufmerksamkeit gerückt. Dennoch haben die wenigsten von uns in Europa eine Vorstellung von ihrem Leben dort in einer überwiegend muslimisch geprägten Umwelt, ihrer Tradition und ihrem Alltag.
Wir laden ein zu einem Rogate-Abend, der einen einführenden Überblick zur aktuellen spezifischen Situation der Christen in den verschiedenen Ländern des Mittleren Osten, von der Türkei und dem Iran bis nach Ägypten und Äthiopien geben soll. Im Zentrum eines Vortrags steht das Leben der Christen in der Südosttürkei (Tur Abdin), im Irak, Syrien und dem Libanon. Lichtbilder lassen Alltagsleben, Geschichte, Kultur und Liturgie der Christen in diesen Ländern lebendig werden. Der Libanon mit einem Anteil von fast 40 Prozent Christen in der Bevölkerung nimmt dabei einen besonderen Platz ein.

Termin: Dienstag, 17. März 2015, 19:00 Uhr. Beginn in der Zwölf-Apostel-Kirche mit einer Vesper.

Ganz bewusst fokussiert der Vortrag dabei weniger auf Bilder der Zerstörung in dieser zum Teil dramatischen Situation des Umbruchs, sondern auf das alltägliche und lebendige christliche Leben, welches auch in diesen Tagen pulst, und will uns das Antlitz Christi im Leben unserer Schwestern und Brüder dort lebendig werden lassen.

Im Rahmen des Vortrags wird auch beispielshaft über die Arbeit des von der katholischen Bischofskonferenz anerkannten Hilfswerks ICO (Inititiative Christlicher Orient) berichtet, welches seit 25 Jahren durch konkrete Projekte die Menschen vor Ort unterstützt, damit sie bleiben können.

Die Aufnahmen zum Vortrag entstanden während der zahlreichen Aufenthalte des Referenten im Libanon, dem Tur Abdin (Türkei), dem Irak und Syrien in den Jahren 2005 bis 2014.

DER REFERENT – Matthias Disch, Jahrgang 1959, Germanist und Historiker, Leitung von Wander- und Pilgerreisen, Fotograf und Buchautor „Ultreja! Impressionen am
Jakobsweg“ (Tyrolia Verlag Innsbruck 2000), erste Reiseleitung nach Ostanatolien in 1985, hält sich seit 2005 regelmäßig im Mittleren Osten, insbesondere im Libanon auf. Ehrenamtliche Unterstützung von Projekten der ICO, Leitung von Pilger- und Wanderreisen in den Libanon, Studien zur Geschichte der Maronitischen Kirche.

Erreichbar ist die Kirche mit öffentlichen Verkehrsmitteln und über die U-Bahnhöfe: Kurfürstenstraße (U1) Nollendorfplatz (U1, U2, U3, U4). Oder per Bus: Kurfürstenstraße (M85, M48), Nollendorfplatz (M19, 187) und Gedenkstätte Dt. Widerstand (M29). PKW-Stellplätze vor dem Gemeindezentrum und in der Genthiner Straße.