Fünf Freitagsfragen an Kirchenpräsident i.R. Helge Klassohn, EKD-Beauftragter für Vertriebene und Heimatvertriebene, über den Verlust und Schmerz der eigenen Heimat und die zum Himmel schreiende Situation heutiger Flüchtlinge.

Kirchenpräsident i.R. Helge Klassohn
Helge Klassohn wurde 1944 in Riga, Lettland, geboren. Nach der Flucht verbrachte die Familie erste Jahre in Groß Kreutz bei Brandenburg und wohnte seit 1953 in Mahlow bei Berlin. Von 1958-1961 besuchte Helge Klassohn das Gymnasium in Berlin-Mariendorf. Nach dem Mauerbau 1961 war Klassohn in den Staatlichen Museen zu Berlin tätig, 1963 folgten das Abitur an der Berliner Abendhochschule und die Kriegsdienstverweigerung. 1963-1968 studierte Klassohn Theologie an der Humboldt-Universität Berlin, 1968/69 war er Vikar in Berlin-Friedrichsfelde. 1969/70 absolvierte er das Predigerseminar in Wittenberg. Nach dem II. Examen war er Pastor im Hilfsdienst in Schönfeld/Uckermark und von 1971-1975 Assistent für Praktische Theologie an der Greifswalder Theologischen Fakultät. 1975-1989 war Klassohn Pfarrer und nebenamtlicher Klinikseelsorger (Ausbildung zum Klinikseelsorger) in Teupitz, Kreis Königs-Wusterhausen, sowie mehrere Jahre Kreisjugendpfarrer. Von 1994 bis 2008 dann Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts. 1997-2004 war Klassohn Präsident der Evangelischen Haupt-Bibelgesellschaft im Bereich der EKU (UEK), 1998-2000 Vorsitzender des Rates der EKU, seit 1996 Vorsitzender der AG der Leitenden Geistlichen-Ost der EKD, seit 1995 Stellvertretender Vorsitzender des Arbeitsausschusses der Kirchenkonferenz der EKD. Seit 2007 ist Helge Klassohn Beauftragter des Rates der EKD für Fragen der Spätaussiedler und der Heimatvertriebenen.
Rogate-Frage: Herr Kirchenpräsident i.R. Klassohn, Sie sind EKD-Beauftragter für Vertriebene und Heimatvertriebene. Wie kommt man zu solch einer Beauftragung und welche Aufgaben beinhaltet sie?
Helge Klassohn: Der Rat der EKD beruft Beauftragte für ganz unterschiedliche Aufgabengebiete, um die Position der EKD in diesen Bereichen kirchlicher Arbeit auch in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Ich wurde noch in der Zeit meines aktiven Dienstes als Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts im Jahre 2007 zum „Beauftragten des Rates der EKD für Fragen der Spätaussiedler und Heimatvertriebenen“ berufen, um als „Gesicht und Stimme der EKD“ unter anderem die Vertretung der EKD gegenüber den (insbesondere russlanddeutschen) Spätaussiedlern und den deutschen Heimatvertriebenen und ihren Organisationen wahrzunehmen, die Anliegen der Aussiedlerseelsorge der EKD, der evangelischen Spätaussiedler und Heimatvertriebenen aufzunehmen und mit der Aussiedlerseelsorge der EKD, ihrer Gliedkirchen und der Aussiedlerseelsorge der anderen christlichen Kirchen sowie den zuständigen staatlichen Institutionen in Deutschland entsprechend zusammenzuarbeiten. Zu meinen Aufgaben als Beauftragter gehören die Übernahme von Predigtdiensten, Vorträgen und so weiter. Bei zentralen und gemeindlichen Veranstaltungen, die Mitgliedschaft in Vorständen und Beiräten, die Abgabe öffentlicher Erklärungen, die Koordination von Aktivitäten und Initiativen wie auch die Bereitschaft zu persönlichen (seelsorglichen) Besuchen und Gesprächen.
Rogate-Frage: Sie selbst wurden 1944 in Riga geboren. Ihre Familie flüchtete mit Ihnen als Sie Kleinkind waren. Wie sehr prägte Flucht und Vertreibung Ihre und die Geschichte Ihrer Familie?
Helge Klassohn: Den Verlust der baltischen Heimat infolge des Hitler-Stalin-Paktes 1939, in der ihre Vorfahren viele Jahrhunderte gelebt hatten, die traumatischen Erlebnisse bei der aufgenötigten Umsiedlung nach Polen, den Tod meiner Schwester, die kurze Rückkehr nach Riga in den Jahre 1942-44, die Flucht von dort über Polen nach Deutschland 1944/45, den nie aufgeklärten Tod von nächsten Angehörigen in von der Roten Armee „überrollten“ Trecks und das Elend der ersten Hungerjahre in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands haben meine Eltern nie verwunden. Zu einer erneuten Flucht in den Westen fehlte die Kraft. Die schrecklichen Kriegserfahrungen wurden in der Familie wieder und wieder erinnert und besprochen. Sie durften in der DDR-Gesellschaft aber nicht nach außen dringen, da gerade die sogenannten „Umsiedler“ den sowjetischen „Freunden“ nichts vorhalten durften. So bin ich in einer starken emotionalen Distanz zum gesellschaftlichen Umfeld und zugleich in der familiär liebevoll gepflegten Erinnerung an das Leben im früheren Baltikum aufgewachsen. Mein Vater stammte aus Kurland, dem westlichen Teil Lettlands, meine Mutter stammte aus Livland, dem nordöstlichen Tei Lettlands. Beide hatten in Riga gearbeitet, meine Mutter als Lehrerin, mein Vater als Journalist.
Rogate-Frage: Was ist aus Ihrer Sicht „Heimat“? Wo sind Christen zu Haus? Wo ist ihre eigene Heimat? Ein Ort Ihrer Biografie, also Riga, Brandenburg, Berlin, Vorpommern, Anhalt?
Helge Klassohn: „Heimat“ beschreibt für mich die emotionale Bindung an eine von Kindheit an vertraute Landschaft, an vertraute Orte und an in Sprache und Verhalten vertraute Menschen. Die Zugehörigkeit zur „Heimat“ wird als selbstverständlich empfunden, braucht nicht begründet zu werden und ist Teil der persönlichen Identität. Der mit Flucht und Vertreibung verbundene Verlust der Heimat konnte als ungerecht empfundene, tief verletzende und identitätsgefährdende Kränkung bis heute in den Familien nur schwer verarbeitet werden. Die Schatten bleiben lange. Vielen Kindern und Enkeln der vom Heimatverlust Betroffenen würde es schwerfallen, die Orte ihrer Kindheit und Jugend mit dem Begriff „Heimat“ zu beschreiben. Etwas ist da fraglich geblieben. Zwar empfinde ich, durch Herkunft und familiäre Geschichte bedingt, eine gewisse Zuneigung für Lettland und meine Geburtsstadt Riga, würde sie aber genauso wenig wie meine anderen Lebens- und Dienstorte als „meine Heimat“ bezeichnen können. Am nächsten steht mir die Mark Brandenburg, in der ich aufgewachsen bin, mit ihrer Landschaft, ihren Menschen und deren Sprache, wobei sich auch zu Anhalt in 14 Jahren Dienstzeit eine besondere Beziehung entwickelt hat. Der Wechsel von einem Lebensort zum anderen ist mir nie schwer gefallen. Man mag darin eine Auswirkung der frühen Fluchterfahrungen und des familiären Heimatverlustes sehen. Für mich wurden durch den Evangelischen Kindergarten, durch Kindergottesdienst, „Christenlehre“ (= gemeindliche religiöse Unterweisung), Konfirmation, Posaunenchor und „Junge Gemeinde“ (gemeindliche Jugendarbeit) Glauben und Leben der evangelischen Kirche zur „inneren Heimat“. Sowohl für die deutschen Heimatvertriebenen als auch für die russlanddeutschen Spätaussiedler war die Möglichkeit zur Beheimatung in Glauben und Leben ihrer Kirche am neuen Ort eine große Hilfe bei der Bewältigung des Heimatverlustes und bei der Integration in die neuen Verhältnisse.
Rogate-Frage: Die Beauftragung für Vertriebene und Heimatvertriebene ist eng mit der deutschen Geschichte verbunden. In den vergangenen Jahren sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor. Müsste man Ihren Auftrag nicht erweitern, den Begriff der Heimatvertriebenen neu denken und insbesondere Vertriebene unserer Tage in den Blick nehmen?
Helge Klassohn: Sie haben Recht, die Flüchtlings- und Kriegssituation unserer Tage schreit zum Himmel. In der EKD und in den einzelnen evangelischen Landeskirchen gibt es seit langem schon eine Zuordnung der Aussiedler- und Vertriebenenseelsorge zum Aufgabenfeld der kirchlich-diakonischen Migrations- und Flüchtlingsfürsorge. Entwicklungsdienst, Katastrophenhilfe und die Aktion „Brot für die Welt“ der Evangelischen Kirche arbeiten dabei eng mit den entsprechenden Einrichtungen der katholischen Kirche und der Freikirchen zusammen. Dabei gibt es natürlich eine gewisse Arbeitsteilung, aber auch Gesamtkonferenzen und gemeinsame Aktionen. Auch die deutschen Heimatvertriebenen und Spätaussiedler selbst zeigen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung eine besondere Sensibilität für das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen unserer Tage und beteiligen sich vor Ort oder zentral an entsprechenden Hilfsaktionen. Die erinnerungspolitischen Diskussionen über das Gesamtkonzept der von der Bundesstiftung “Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ unter der Beteiligung auch von polnischen und tschechischen Fachleuten in Berlin geplanten Dauerausstellung haben meines Erachtens. gezeigt, dass der Zuschnitt meiner Beauftragung zur Zeit durchaus noch sinnvoll ist. Ich gehöre für die EKD auch dem Stiftungsrat dieser Bundesstiftung an.
Rogate-Frage: Auch die Heilige Familie musste fliehen, suchte Schutz in einem anderen Land. Flucht und Vertreibung ist mehrfach Thema in der Heiligen Schrift. Erwächst daraus für Christen eine Verpflichtung? Wenn ja, welche?
Helge Klassohn: Die gastliche Aufnahme von Fremden und Flüchtlingen, der Schutz ihrer Rechte und ihrer Würde sind nach Auffassung der Heiligen Schrift von Gott geboten (2. Mose 23,9; 5. Mose 10,18; 27,19; Ps 146,9; Sach 7,10; Mal 3,5). Darum kann und darf uns Christen das Schicksal von Flüchtlingen und Vertriebenen in unserem Land und in anderen Ländern unserer Welt nicht gleichgültig sein. Wir haben daher die Pflicht, sowohl gegen die Ursachen von Kriegen, von Vertreibungen und von Flucht vorzugehen indem wir beharrlich für soziale Gerechtigkeit, für die Überwindung von Armut und religiösem Fanatismus und für friedliche Konfliktlösungen eintreten, als auch in unserem Land für eine menschenwürdige, sozial angemessene und gerechte Behandlung von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Zuwanderern, bis hin zur Gewährung von Kirchenasyl mit Rat und Tat sorgen. Deutschland ist schon seit langem ein „Einwanderungsland“. Was uns fehlt, ist nicht der europaweite Ausbau von Zuwanderungsbeschränkungen, sondern eine klare, gesellschaftlich gründlich diskutierte Einwanderungsgesetzgebung, die sowohl die Rechte und Pflichten der Einwanderer als auch die guten, menschenrechtlich verantworteten Intentionen unserer aufnehmenden Gesellschaft plausibel formuliert. Um dahin zu kommen, bedarf es auch einer großen zivilgesellschaftlichen Anstrengung. Hinzu kommt noch die angesichts des aktuellen weltweiten Kriegs- und Flüchtlingselends auf der Hand liegende gesamtgesellschaftliche Verpflichtung zur schnellen und gesetzlich geregelten Aufnahme von einer großen Zahl von Flüchtlingen im Sinne der Nothilfe und des weltweit geradezu lebensnotwendigen „Lastenausgleichs“. Angesichts der übergroßen Nöte fehlt mir zur Zeit ein im Lichte von Gottes Wort gesprochenes, klärendes und ermutigendes Wort der Kirchen in unserem Lande, so wie wir es von Papst Franziskus auf Lampedusa gehört haben und ähnlich wie es die Kirchen vor 20 Jahren zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im damaligen Deutschland („Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“) auch im Hinblick auf die biblisch gebotene „Option für die Armen“ schon formuliert haben.
Rogate: Vielen Dank, Herr Kirchenpräsident i.R. Klassohn, für das Gespräch!
Weitere Informationen finden Sie hier: ekd.de
Weitere Freitagsfragen – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de
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Willkommen zu unseren öffentlichen Gottesdiensten in der gastgebenden Ev. Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, 10783 Berlin-Schöneberg:
- Dienstag, 10. März 15 | 19:00 Uhr, VESPER, das Abendgebet, danach Bibelgespräch

- Donnerstag, 12. März 15 | 20:30 Uhr, DIE SIEBEN WORTE JESU AM KREUZ, Andacht
- Dienstag, 17. März 15 | 19:00 Uhr, VESPER in der Kirche, anschließend Rogate-Abend zur Lage und Leben der Christen im Orient, Kleiner Saal. Referent: Matthias Disch.
- Donnerstag, 19. März 15 | 20:30 Uhr, Meditative Passionsandacht, in der Kapelle
- Dienstag, 24. März 15 | 19:00 Uhr, Vesper, das Abendgebet, danach Bibelgespräch
- Donnerstag, 26. März 15 | 20:30 Uhr, Meditative Passionsandacht, in der Kapelle
- Sonnabend, 28. März 2015 | 18:00 Uhr, ökumenische Vesper in der Kirche, mit der Alt-katholischen Gemeinde
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