Fünf Freitagsfragen an Dr. Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Bundestag, über Verbindendes, moralische Normen und avantgardistische Politikvorstellungen.

Dr. Dietmar Bartsch (Bild: 2017 DiG Trialon)
Dr. Dietmar Bartsch ist seit 2015 Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Bundestag. Aufgewachsen in Vorpommern, studierte er zunächst Wirtschaftswissenschaften und machte später eine Aspirantur an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Moskau, wo er 1990 zum Dr. oec. promovierte. Er war langjähriger Bundesschatzmeister und Bundesgeschäftsführer der PDS bzw. der LINKEN. Von 1998 bis 2002 und seit 2005 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages.
Rogate-Frage: Herr Dr. Bartsch, was verbinden Sie mit Gott, Glauben und Kirche?
Dietmar Bartsch: Zunächst, ich bin nicht religiös. Das heißt nicht, dass ich Begriffe wie „Gott“ oder „Glauben“ für bedeutungslos hielte. Für viele Menschen haben diese Begriffe eine ziemlich klare Bedeutung, es gibt eine „Grammatik“ des Gebrauchs dieser Begriffe. Deshalb wäre es ignorant zu sagen, dass es bedeutungslose Begriffe wären. Ignoranz aber ist eine enge Verwandte der Intoleranz, und Intoleranz können wir nicht gebrauchen. Die Kirche ist noch einmal etwas anderes, sie ist die Institutionalisierung des Glaubens. Religion ist ohnehin nicht unwichtig, wie es ein naiver Atheismus vielleicht nahelegt. Hegel hat das gut auf den Punkt gebracht: In der Religion gibt sich ein Volk, man könnte auch sagen: eine Gemeinschaft, die Definition dessen, was ihm wichtig ist. Es geht um Verbindendes bei allem, was trennt. Hier sehe ich eine strukturelle Ähnlichkeit zur Staatsbürgerlichkeit und zum Gemeinwohl. Natürlich trennt manches uns, auch wenn wir Bürger desselben Staates sind. Aber als Staatsbürger diskutieren und streiten wir um den Inhalt dessen, was Gemeinwohl ist.
Rogate-Frage: Sie haben gesagt: „Der Kampf der SED gegen die Kirchen war falsch“. Was genau meinen Sie damit und wie reagieren Ihre Parteifreunde darauf?
Dietmar Bartsch: Der Kampf der SED gegen die Kirchen hörte irgendwann auf und machte einem Konzept „Kirche im Sozialismus“ Platz. Was jedoch nicht aufhörte, war ein Misstrauen in gläubige Menschen und auch eine Diskriminierung dieser Menschen. Der Hintergrund ist offensichtlich. Die SED erhob einen unbedingten Wahrheitsanspruch. Da waren religiöse Überzeugungen konkurrierende Überzeugungen. Politik, die sich mit einem unbedingten Wahrheitsanspruch legitimiert, und das machen avantgardistische Politikvorstellungen, ist der eigentliche Fehler. Was sagen nun meine Genossinnen und Genossen zu dieser These? Wir haben uns bei der Umwandlung der SED in die PDS, was wesentlich mehr war als eine Änderung des Parteinamens, deutlich gegen avantgardistische Politikvorstellungen abgegrenzt, weil diese in ihrem Kern demokratiefeindlich sind. Jeder Genosse und jede Genossin, die das akzeptiert, wird auch die These verstehen, dass der Kampf der SED gegen die Kirchen falsch war.
Rogate-Frage: Was schätzen Sie an den Kirchen? Was nicht?
Dietmar Bartsch: Ich beginne mit der zweiten Frage, weil sie etwas einfacher zu beantworten ist. Die Kirchen bilden, weil sie Institutionen sind, auch die Nachteile von Institutionen aus, etwas, was sie auch mit Parteien vergleichbar macht. Es geht eben um Erhalt der Institution auch als Selbstzweck, es geht um Machterhalt und Machtausbau und verbunden damit um einen gewissen Moralismus, mit dem die Kirchen in gesellschaftlichen Diskussionen auftreten. Letzteres möchte ich erläutern. Wenn die Kirchen in Fragen zum Schwangerschaftsabbruch eine andere Position vertreten als ich, ist das für sich erst einmal unproblematisch. Wenn sie jedoch christliche Werte als Begründung anführen, so beeindruckt das vielleicht Christen, nicht ebenso zwingend Nicht-Christen. Dennoch sind die Ermahnungen der Kirche auch an sie adressiert. Da wäre dann schon ein größerer Begründungsaufwand nötig.
Allerdings ist hierbei, und das klingt vielleicht paradox, auch Positives. Indem Vertreter der Kirche in der politischen Öffentlichkeit eine normative Aussage platzieren, sind nicht nur sie selbst einem Begründungszwang ausgesetzt, sondern sie ermöglichen es anderen, sich dazu zu verhalten. Es sind also mögliche Gegenstände einer öffentlichen Diskussion über moralische Normen. Ich muss nicht mit der Kirche übereinstimmen, ich kann den Rückzug auf „christliche Werte“ als nicht ausreichend kritisieren, aber ich muss wertschätzen, dass in der Öffentlichkeit überhaupt über moralische Normen diskutiert wird. Da ist auf die Kirche Verlass.
Rogate-Frage: Warum wäre eine „Gesellschaft ohne Glauben“ problematisch?
Dietmar Bartsch: Ich bin mir nicht ganz sicher, in welchem Grad sie problematisch wäre. Aber im Prinzip wird das aus der vorhergehenden Antwort schon klar. Religionen und mit ihnen die Kirchen tradieren Moralauffassung und damit normative Orientierungen und Argumentationen. Eine Gesellschaft, die auf moralische Vergewisserung nicht zurückgreifen könnte, hätte Probleme.
Rogate-Frage: Worin unterscheidet sich Solidarität von der christlichen Nächstenliebe?
Dietmar Bartsch: Nächstenliebe fragt nicht nach dem eigenen Nutzen, sie fragt danach, was wir anderen Gutes tun können. Darin liegt eine Ähnlichkeit zur Solidarität, die sich auch gegen Egoismus stellt. Allerdings ist Solidarität manchmal konkreter: als Klassensolidarität, als Solidarität von Gefangenen gegen das Gefängnispersonal, aber auch in Gestalt von sozialpolitischen Solidarsystemen. Es handelt sich also um Organisationsformen, Nächstenliebe dagegen ist eine moralische Idee. Ich denke aber, dass ohne die kulturelle Tradierung von Ideen wie der Nächstenliebe solidarische Praktiken geringere Aussicht auf Stabilität hätten.
Rogate: Vielen Dank, Herr Dr. Bartsch, für das Gespräch.
Weitere Freitagsfragen – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de
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