Seit Ende Juli veranstaltet der Evangelisch-lutherische Kirchenkreis Friesland-Wilhelmshaven, die Citykirche Wilhelmshaven und das Rogate-Klosters Sankt Michael zu Berlin eine Andachtsreihe zum Lied „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius in der Christus- und Garnisonkirche. Am 28. August 2017, war Oberbürgermeister Andreas Wagner der Impulsgeber zur Strophe „Lass uns einfältig werden”. Wir dokumentieren hier seine Ansprache:
Der 20. April 2005 ging in die Geschichte ein. Noch heute erinnern sich viele Deutsche an ein Detail, das für immer mit diesem Tag in Verbindung gebracht wird. Und dieses Detail ist nicht etwa die Tatsache, dass Silvio Berlusconi formell seinen Rücktritt als Italiens Ministerpräsident einreichte. Und auch nicht die Tatsache, dass US-Außenministerin Condoleezza Rice die Entwicklung der Demokratie in Russland, vor allem die mangelnde Pressefreiheit und die weitgehenden Machtbefugnisse von Präsident Wladimir Putin, kritisierte. Und nein, dieser Tag ging auch nicht in die Geschichte ein, weil es der letzte Tag in meinem Leben als 36-Jähriger war.
Das Detail, das den 20. April in die deutsche Seele eingebrannt hat, bezieht sich auf ein Ereignis des Vortags: Am 19. April 2005 wählten die 115 Kardinäle am zweiten Tag des Konklaves das neue Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche. Joseph Ratzinger wurde als Benedikt XVI. der erste deutsche Papst seit fast einem halben Jahrtausend. Eine Nachricht, die Millionen Menschen – ganz gleich welchen Glaubens – berührte. Eine Nachricht, die so viele Geschichten transportierte. Eine Nachricht, die so viele Worte wert gewesen wäre.
Und was passierte einen Tag später? Die Bild-Zeitung brachte die Einfalt auf ihren Titel: „Wir sind Papst“. Geben Sie es zu, auch Sie erinnern sich noch bildlich an diese Schlagzeile.
Für mich steht diese Schlagzeile, diese auf drei einfachste Worte heruntergebrochene Nachricht – die zudem auch noch grammatikalisch falsch ist – für einen Trend, der seitdem erschreckende Züge angenommen hat. Waren Nachrichten schon seit jeher verdichtete, lesegerecht aufbereitete Information, verlieren Nachrichten in den letzten Jahren mehr und mehr ihren Informationsgehalt. Aus Verdichtung wird Vernachlässigung. Statt das Wichtigste in aller gebotenen Kürze zusammenzufassen, weicht das Wichtige hinter einer plakativen Schlagzeile zurück und macht der Emotion Platz: eben „Wir sind Papst“.

Oberbürgermeister Andreas Wagner (2.v.l) in der Christus- und Garnisonkirche Wilhelmshaven
Es geht mit diesen drei Worten nicht darum, die Leser zu informieren, wer wann warum und wie zum Papst gewählt wurde. Es geht auch nicht darum, über die katholische Kirche, ihre Geschichte und ihre Werte zu informieren. Schon gar nicht geht es darum, einen Bezug zur heutigen Zeit herzustellen, kritische Fragen zu stellen und eine Diskussion in Gang zu bringen. Es geht nicht um differenzierte Meinungsbildung. Es geht nicht darum, mündigen Bürgerinnen und Bürgern in einer Demokratie die Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie das öffentliche Leben sachlich-kritisch beurteilen und mitgestalten können.
Nein. „Wir sind Papst“ will schlichtweg ein Gefühl ansprechen, das die Menschen vereint, das Stolz und Freude weckt, das Euphorie anstachelt.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Stolz, Freude und Euphorie sind wichtig. Ebenso wie Emotionen wichtig sind. Aber der nüchterne Diskurs rückt mehr und mehr in den Hintergrund, während die Einfalt auf dem Vormarsch ist. „Wir sind Papst“ ist aus meiner Sicht leider ein deutliches Zeichen für eine Bewegung weg von der Wissens-, hin zur Gefühlsgesellschaft. Und in diesem Wandel stecken wir gerade mittendrin.
Entscheidungen werden immer seltener nach gründlicher Abwägung aller Vor- und Nachteile, nach sorgfältiger Betrachtung aller Fakten getroffen. Deutlich häufiger wird dem Bauchgefühl Vorrang gegeben. Der deutsche Satiriker Jan Böhmermann nannte dieses Phänomen sehr treffend „Bauchipedia“.
Eine Entscheidung, die auf eben diesem Bauchipedia basiert, mag im persönlichen Bereich auch vollkommen legitim sein – man sollte in emotionalen Belangen vermutlich sogar viel öfter auf sein Bauchgefühl hören. Aber wenn es um wirtschaftliche oder politische Entscheidungen geht, ist Bauchipedia nicht nur fahrlässig, sondern geradezu gefährlich.
Atomkraftwerke sind eine Gefahr für Mensch und Umwelt – aber hey, so ein Windpark „verspargelt“ doch die Landschaft!
Sie sehen, Baden-Württembergs Ex-Ministerpräsident Erwin Teufel wusste schon 2003, die Macht der Emotionen einzusetzen, um politisch hochkomplexe Sachverhalte herunter zu brechen und die Öffentlichkeit durch die Kraft des Bauchgefühls auf seine Seite zu ziehen. Denn noch heute haben Windkraftanlagen – trotz grüner Landesregierung – bei der baden-württembergischen Bevölkerung ein schweres Standbein. Die Angst vor der Verspargelung von Schwarzwald und Schwäbischer Alb ist ein gewichtiges Argument, das gegen Notwendigkeit, Umweltfreundlichkeit und Effizienz einer modernen Energieerzeugung ins Feld geführt wird. Ich bin froh, dass man in diesem Punkt in unserer Region weitsichtiger ist.
Die Geschichte lehrt uns, dass im Dialog zwischen Politik und Öffentlichkeit seit jeher die Vereinfachung von Botschaften, die Schaffung von Bildern und das bewusste Spielen mit Emotionen gängige Praxis ist. Ich möchte nochmals betonen, dass das per se nichts Schlimmes ist: Die Aufgabe des Politikers ist es schließlich, sich stellvertretend für die Bürgerschaft in hochkomplexe Themen einzuarbeiten, sie zu verstehen und zu durchdringen und sie erklärbar zu machen, um sie schließlich zu bewerten, zu steuern und gegebenenfalls so zu verändern, dass sie einen bestmöglichen Effekt für die Allgemeinheit haben. Da hat die Einfalt keinen Raum!
Der Politiker selbst sollte seine Arbeit aber nicht auf Vereinfachung, Bilder und Emotionen aufbauen. Er sollte sie nicht zur Grundlage von Entscheidungen machen. Und das gilt für Politikerinnen und Politiker auf allen Ebenen: von der Kommunal-, über die Landes- zur Bundes- und Europapolitik.
Auf der anderen Seite ist es die Aufgabe der Medien, ihren Nutzerinnen und Nutzern die komplexen Informationen so aufzubereiten, dass ein sachlicher Diskurs möglich ist. Als Übersetzer und Bewerter nehmen die Medien somit in einer Demokratie eine wichtige Funktion ein.
Die etablierten Nachrichtenformate – ganz gleich ob im Fernsehen, im Hörfunk oder in den Printmedien – haben aber immer größer werdende Probleme im Kampf um die Gunst der Rezipienten. Sie kämpfen um ihre Reichweite. Onlineportale gewinnen zusehends oberhand. Statt ausgebildeter Journalistinnen und Journalisten wählen Blogger, Influencer und selbsternannte Medienexperten nun die Nachrichten und ihre Botschaften aus.
Was folgt, ist eine Spirale der Einfalt: Immer weniger Menschen sind bereit, sich in komplexe Sachverhalte einzulesen, sich mit Dingen zu beschäftigen, die nicht in drei einfachsten Worten zusammengefasst werden können. Statt einer 30-minütigen Dokumentation über den Aufbau des Stromversorgungsnetzes in Deutschland wird das 30-sekündige YouTube-Video über die Katze auf dem elektrischen Saugroboter geschaut. Statt der ohnehin schon einfältigen politischen Diskussion bei „Anne Will“ wird die emotionale Debatte bei Twitter verfolgt. Statt Orwells fast 400 Seiten langem „1984“ werden 1.374 skurrile Fakten im „Unnützen Wissen“ konsumiert.
Statt Information geht es bei der Mediennutzung mehr und mehr um Rekreation – die Unterhaltung läuft dem Wissen den Rang ab.
Um mein persönliches Bauchipedia hierbei nicht zu sehr zu beanspruchen, möchte ich zum Beweis für die Spirale der Einfalt ein Beispiel aus der Onlinegemeinschaft Nummer 1 anführen: Facebook.
41 Prozent aller Deutschen, die online sind, nutzen laut der aktuellen ARD-ZDF-Onlinestudie mindestens einmal wöchentlich diese Community, die damit nach wie vor der Spitzenreiter unter den Onlinecommunitys ist. Vor allem die Altersgruppe zwischen 14 und 29 Jahren ist hier mit 70 Prozent stark vertreten, aber auch die Älteren tummeln sich mehr und mehr auf Facebook. Wer wissen möchte, wie politische Entscheidungen des Rates der Stadt Wilhelmshaven in der Öffentlichkeit diskutiert werden, ist in einer der zahlreichen Wilhelmshaven-Gruppen gut aufgehoben.
Eines möchte ich gleich vorweg stellen: Ich maße mir keinesfalls an, einen umfassenden Überblick über alle Diskussionen, die hier laufen, zu haben. Und ich sehe durchaus, dass so mancher Facebook-Nutzer sehr differenziert und fachlich fundiert zum politischen Diskurs beiträgt. Da es aber heute darum gehen soll, dass wir einfältig werden, möchte ich – Politiker, der ich nun mal bin – jetzt bewusst zum Stilmittel der Vereinfachung und Verallgemeinerung greifen, um meine These möglichst anschaulich und emotionsgeladen zu belegen:

Die Marktstraße ist Wilhelmshavens wichtigste Einkaufsstraße und Fußgängerzone.
Ende Februar ist ein guter Freund von mir als zweiter Vorsitzender des City-Interessensvereins (CIV) zurückgetreten. Als Inhaber eines Geschäftes in der Marktstraße ist er nicht nur ein umtriebiger Geschäftsmann, sondern auch ein überaus engagierter Vertreter der lokalen Einzelhändler.
Anfang des Jahres wurde politisch und öffentlich diskutiert, an welchen Sonntagen die Geschäfte öffnen dürften. Drei Termine waren fix, bei einem gab es einen Dissens zwischen CIV, der Werbegemeinschaft Nordseepassage und der WTF. In diesem zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang war nun also der Rücktritt meines Freundes zu bewerten, der nicht nur in der gedruckten Ausgabe der Wilhelmshavener Zeitung (WZ) eine Nachricht wert war, sondern auch auf dem Facebook-Account der Wilhelmshavener Zeitung.
Ich habe mein Bedauern bereits zum Ausdruck gebracht: Die „neuen Medien“ befördern den Trend zur Einfalt, indem sie bereits verdichtete Nachrichten nochmals verdichten, dabei aber mehr auf Unterhaltung als auf Information setzen.
Die bereits auf ein Minimum an Information heruntergebrochene Nachricht, dass der zweite Vorsitzende des City-Interessensvereins sein Amt niedergelegt hat, wurde Ende Februar auf Facebook also zur Vier-Wort-Nachricht „XY gibt Posten ab“.
Sie können sich vorstellen, dass der Gehalt einer solchen Schlagzeile für die wenigsten sofort verständlich ist. Die WZ wollte erreichen, dass die Nutzer den beigefügten Link anklicken, in dem alle weiteren Informationen lesefreundlich zusammengefasst waren. Doch die Einfalt war schneller: Statt sich die Mühe zu machen, den verlinkten Beitrag zu lesen, entspann sich binnen kürzester Zeit eine Diskussion um die Verbindlichkeit und Verlässlichkeit der politischen Mitglieder unseres Rates. Man kann nun von den Ratsmitgliedern halten, was man will, aber diese Diskussion war nicht fair.
Was war passiert? Nun, ich würde es mal so rekonstruieren: Unkenntnis der Person und der Materie, die vermeintlich aussagekräftige Schlagzeile und das oblatendünne Wissen um die Strukturen der Kommunalpolitik trafen in einer explosiven Mischung aufeinander. Einmal Bauchipedia befragt, schlossen die Diskutanten sogleich ihre Schlüsse: Wer auch immer dieser Mann sein möge und was auch immer er für ein Amt innehaben möge, das müsste auf jeden Fall etwas mit der Politik zu tun haben! Es war ja schließlich gerade erst Kommunalwahl.
Mein Freund wurde also kurzerhand zu einem Mitglied des Rates – sogar zum zweiten Vorsitzenden des Rates! – hatte seine Wähler getäuscht und sein Amt nach zwei Monaten bereits wieder an den Nagel gehängt. Was für ein Skandal! Und was für eine ebenso einfältige, wie unsinnige Diskussion, der sich einige Nutzer mit hohem Eifer hingaben.
Liebe Gemeinde, als Matthias Claudius uns zu mehr Einfalt aufrief, tat er das in guter Absicht:
Gott, lass dein Heil uns schauen,
auf nichts Vergänglichs trauen,
nicht Eitelkeit uns freun;
lass uns einfältig werden
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein.
Es ist sicherlich auch heutzutage angebracht, hin und wieder den Kopf auszuschalten und bewusst Abstand zu nehmen. Die Welt ist schon kompliziert genug, da tut es zwischendurch einfach mal gut, sich auf die Nichtigkeiten des Alltags zu konzentrieren, sich an scheinbar Belanglosem zu erfreuen und mal nicht alles zu hinterfragen und zu bewerten. Eben einfach mal fromm und fröhlich wie ein Kind zu sein. Einfalt als Mittel der Entspannung, Unterhaltung und Rekreation ist ein wunderbares Mittel. Aber hin und wieder ist es eben notwendig, der Einfalt Einhalt zu gebieten.
Die Demokratie hat die Macht, den Willen der Allgemeinheit durchzusetzen, vernünftige Entscheidungen zu finden, die für die Gesamtgesellschaft wichtig und richtig sind. Und genau deswegen ist es wichtig, dass die Gesamtgesellschaft und ihre gewählten politischen Vertreter zwischen Einfalt und Vielfalt differenzieren können.
Und was den eingangs angesprochenen Trend weg von der Wissens-, hin zur Gefühlsgesellschaft angeht: Sie werden es mir bitte nachsehen, dass ich als Politiker bewusst zur Emotion greife. Man sagt schließlich aus gutem Grund „Lieber eine starke Behauptung als ein schwaches Argument“.
Ich wollte Sie heute Abend zum Nachdenken, zum Hinterfragen und Differenzieren bewegen. Ich hoffe, das ist mir gelungen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass wir uns in der öffentlichen Diskussion wieder mehr über Fakten als über Bauchgefühle unterhalten.
Oberbürgermeister Andreas Wagner, Wilhelmshaven
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