Fünf Freitagsfragen an Onna Buchholt, Projektreferentin bei der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland e.V. (aej), über den Einsatz für Chancengleichheit, vollumfängliche Teilhabe und eine Gesellschaft, in der alle Menschen angstfrei leben können. Ein Interview im Rahmen des Rogate-Demokratieprojekts „FrieslandVisionen: Wie wollen wir morgen leben?“.
Onna Buchholt ist seit 2014 Projektreferentin bei der aej und studierte zuvor Islamwissenschaft, Politik und Geschichte an der Universität Münster. Sie engagiert sich für eine Rassismus-kritische Öffnung der Jugendverbandslandschaft und teilt sich die Projektleitung der aej-Trägerschaft im Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit mit ihrer Kollegin Franziska Vorländer und lebt in Berlin.
Rogate-Frage: Frau Buchholt, was ist die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland und wer gehört dazu?
Onna Buchholt: Die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland ist die Dachorganisation Evangelischer Kinder- und Jugendarbeit auf Bundesebene. Wir vertreten die Interessen unserer 32 Mitglieder – darunter verschiedene evangelische Jugendwerke und –verbände, die Jugendarbeit der Mitgliedskirchen der EKD sowie die freikirchliche Jugendarbeit – gegenüber Politik, kirchlichen Institutionen und Fachorganisationen. Zu den größeren Mitgliedsorganisationen zählen neben der landeskirchlichen Jugendarbeit der Christliche Verein Junger Menschen (CVJM) und der Verband christlicher Pfandfinder und Pfadfinderinnen (VCP). Insgesamt vertritt die aej die Interessen von etwa 1,35 Millionen jungen Menschen.
Rogate-Frage: Sie befassen sich als evangelischer Verband mit Islam- und Muslimfeindlichkeit. Warum?
Onna Buchholt: Als Evangelische Jugend verstehen wir uns als ein Verband, der sich für gute Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland einsetzt und für Chancengerechtigkeit und ein gutes Miteinander stark macht, dies schließt auch Angehörige anderer Konfessionen und Religionen mit ein.
Aus diesem Selbstverständnis heraus haben wir vor etwa 15 Jahren damit begonnen, im Kontext der damals aufkommenden Diskussion um die „Interkulturelle Öffnung der Jugendverbandsarbeit“ Vereine junger Migrant*innen zu coachen, die aus den unterschiedlichsten Gründen noch über keine stabilen Strukturen als Jugendverband verfügten. Erste Kooperationsprojekte haben wir mit christlich-ökumenischen Partnern wie dem Orthodoxen Jugendbund, der Koptischen Jugend Deutschlands und dem Jugendverband der Evangelischen-Vietnamesischen Tin Lanh Gemeinden in Deutschland e.V. durchgeführt, danach mit dem Bund der Alevitischen Jugendlichen als erstem nichtchristlichen Verband.
Durch unsere interreligiöse und ökumenische Arbeit bestanden seit den 2000er Jahren auch gute Kontakte zu muslimischen Jugendverbänden. Mit ihnen haben wir ab 2012 erste größere Projekte zusammen durchgeführt. Im Kontext der Rassismus-kritischen Öffnung der Jugendverbandsarbeit haben wir Barrieren struktureller und gesellschaftlicher Art erkannt, die einer Partizipation marginalisierter Jugendverbände entgegenwirken.
Wir möchten erreichen, dass die Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit für alle da sind und keine Ausschlüsse produzieren. Insbesondere muslimische Jugendliche sind aber massiv von antimuslimischen Ressentiments und Rassismus betroffen und sehen sich einem generellen Misstrauensdiskurs ausgesetzt, der ihre vollumfängliche Teilhabe verhindert. Deshalb setzen wir uns in unseren Bezügen gegen Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus ein.
Rogate-Frage: Daraus ist ein Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit entstanden. Was passiert in diesem Netzwerk und welches Ziel steht dahinter?
Onna Buchholt: Von 2015-2019 waren wir mit unserem Kooperationsprojekt „Junge Muslime als Partner – FÜR Dialog und Kooperation! GEGEN Diskriminierung!“ bereits ein Teil der BMFSFJ-Bundesförderung „Demokratie leben!“ im Förderbereich der Prävention von Islam- und Muslimfeindlichkeit. Im Rahmen dieses Projekts entstand eine enge Zusammenarbeit mit CLAIM, der Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit, mit der wir eine gemeinsame Fachtagung auf die Beine stellten und später auch Mitglied im Netzwerk wurden. Aus dieser Zusammenarbeit ist die gemeinsame Trägerschaft des Kompetenznetzwerks Islam- und Muslimfeindlichkeit entstanden, zu dem auch ZEOK, das Zentrum für europäische und orientalische Kultur, gehört.
Unser Ziel als Kompetenznetzwerk ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen angstfrei leben können – auch Muslim*innen, die in den vergangenen Jahren einer schockierend hohen Anzahl von Angriffen ausgesetzt waren, wie die offiziellen Polizeistatistiken seit 2017 belegen. Empirische Erhebungen zur Verbreitung von Vorurteilen zeigen seit vielen Jahren, dass etwas mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung der Meinung ist, der Islam passe nicht zu ihrer Kultur und den Islam als Bedrohung wahrnimmt. Das ist ein besorgniserregend hoher Anteil und eine Gefährdung unserer Demokratie, weil solche Einstellungen oft mit Forderungen nach einer Einschränkung der Grundrechte von Muslim*innen einhergehen.
Unsere Aufgabe als Kompetenznetzwerk ist, antimuslimischen Rassismus zu benennen und sichtbar zu machen, um breite Anteile der Bevölkerung für bestehende Diskriminierungsformen zu sensibilisieren. Die drei Träger im Kompetenznetzwerk fokussieren dabei unterschiedliche Themenbereiche und Zielgruppen; während CLAIM unter anderem das Monitoring von Vorfällen antimuslimischen Rassismus verbessern will und wissenschaftliche Expertise bereitstellt wirkt ZEOK in den Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, indem sie vor allem Fachpersonal aus Kitas und anderen pädagogischen Kontexten weiterqualifizieren.
Als Jugendverband ist unsere Zielgruppe als aej die Jugendverbandslandschaft, in der wir für die Themen Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit sensibilisieren wollen. Wir bieten in diesem Kontext unterschiedliche Bildungsformate und Workshop-Konzepte an und haben eine mobile Ausstellung erarbeitet, die künftig auf Großveranstaltungen zum Einsatz kommen wird, sofern die Pandemie-Lage es zulässt. Darüber hinaus haben wir eine Bestandsaufnahme der Einstellungen von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 29 Jahren gemacht, was Islamfeindlichkeit und weitere Syndrome gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit angeht sowie ihre Bezüge zu Religiosität und gesellschaftlichem Engagement. Die Ergebnisse der repräsentativen Studie werden zum Jahresende veröffentlicht.
Rogate-Frage: Wie äußert sich Islam- und Muslimfeindlichkeit in der Kirche und den Gemeinden?
Onna Buchholt: Innerhalb unserer eigenen jugendverbandlichen Strukturen erleben wir Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus selten offen geäußert, sondern eher in Form einer Zurückhaltung und Distanz gegenüber potenziellen muslimischen Partnerorganisationen, die sich auch durch Unsicherheit im Kontakt äußern kann. Ein massives Problem im Kontext des islamfeindlichen Gesamtdiskurses ist das Misstrauen, das muslimischen Akteur*innen entgegengebracht wird. Anders als andere Jugendorganisationen sind Muslim*innen beispielsweise stets aufgefordert, ihre Werte offenzulegen und ihr Bekenntnis zur Demokratie zu bekräftigen. Oder ihr Verhalten und ihre Motive werden in Frage gestellt, weil vermutet wird, dass sie sich nicht wahrheitsgetreu äußern würden. Solche Einstellungen machen aber eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe unmöglich.
Wir wurden auch schon wenige Male von Einzelpersonen angefragt, inwieweit wir durch unsere Projekte zur Bildung einer muslimischen Parallelgesellschaft beitragen wollten oder unser Verweis auf antimuslimischen Rassismus als gesamtgesellschaftliches Problem wurde mit einer vermeintlichen Christ*innenverfolgung zu relativieren versucht, die es in Deutschland nicht gibt. Bei derartigen Äußerungen haben wir es mit sehr problematischen Ausdrücken von Verschwörungsideologie und der Abwehr einer Auseinandersetzung mit diskriminierenden und rassistischen Strukturen in unserer Gesellschaft zu tun. Es sind Vorstellungen, die in der Regel nicht von einer Gleichwertigkeit aller Menschen ausgehen.
Rogate-Frage: Wie nehmen Sie als Netzwerk grundsätzlich die mediale Berichterstattung über den Islam und Muslime wahr?
Onna Buchholt: Die mediale Berichterstattung über den Islam und Muslim*innen halten wir für oftmals problematisch und eine der Ursachen für die weite Verbreitung islamfeindlicher Einstellungen. Wenn in Medienberichten in den vergangenen zwanzig Jahren von Muslim*innen oder dem Islam die Rede war, dann nahezu ausschließlich in einer negativen Rahmung. Die Berichterstattung über Muslim*innen ist überwiegend problemorientiert, wie jüngere Studien zu den überregionalen Presseorganen oder beispielsweise der Besetzung von Talkshows zeigen. Die gelebte Normalität von deutschen Muslim*innen kommt in den Medien oder der Unterhaltungsindustrie praktisch nicht vor, so dass ein starkes Zerrbild von muslimischen Lebensentwürfen entsteht und in der Bevölkerung überwiegend Unkenntnis herrscht. Dazu kommt, dass legitime Kritik an spezifischen Aspekten der Religion oder muslimischen Communities regelmäßig zu Pauschalisierungen über die imaginierte Gesamtheit an Muslim*innen führt und Rassismen reproduziert.
Rogate: Vielen Dank, Frau Buchholt, für das Gespräch.
Weitere Interviews in der Reihe Freitagsfragen (Rogate-Kloster Sankt Michael zu Berlin ISSN 2367-3710) – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de.
Mehr Informationen zum Demokratieprojekt „FrieslandVisionen: Wie wollen wir morgen leben?“ finden Sie hier.
Herzlich willkommen zu unseren nächsten öffentlichen Andachten und Termine:
- Dienstag, 17. August 2021 | 19:30 Uhr, ökumenischer SommerBibelAbend. Mit Br. Franziskus (Rogate). Ort: Lutherkirche, Brommystraße 71, 26384 Wilhelmshaven-Villenviertel.
- Donnerstag, 19. August 2021 | 19:00 Uhr, Abendgebet. Ort: Lutherkirche, Brommystraße 71, 26384 Wilhelmshaven-Villenviertel. Orgel: Traugott Böhlke (St. Martinskirchengemeinde, Voslapp) Lektor:innen: Heidrun Helbich (Ev.-luth. Thomaskirchengemeinde, Neuengroden) und Florian Wiese (Rogate-Kloster). Kirchdienst: N.N. Ort: Lutherkirche, Brommystraße 71, 26384 Wilhelmshaven-Villenviertel.
- Donnerstag, 19. August 2021 | 19:45 Uhr, Demokratie-Reihe „Wen wähle ich?“ – Interview zur Bundestagswahl 2021 mit Hans-Henning Adler (DIE LINKE.). Ort: Lutherkirche, Brommystraße 71, 26384 Wilhelmshaven-Villenviertel.
- Dienstag, 24. August 2021 | 19:30 Uhr, ökumenischer SommerBibelAbend. Mit Pastoralreferentin Daniela Surmann (Sankt Willehad) und Br. Franziskus (Rogate). Ort: Lutherkirche, Brommystraße 71, 26384 Wilhelmshaven-Villenviertel.
- Donnerstag, 26. August 2021 | 19:30 Uhr, Abendgebet. Orgel: Stadtkantor Markus Nitt. Lektorinnen: Heidrun Helbich (Ev.-luth. Thomaskirchengemeinde, Neuengroden) und N.N. Ort: Lutherkirche, Brommystraße 71, 26384 Wilhelmshaven-Villenviertel.
- Donnerstag, 26. August 2021 | 20:15 Uhr, Demokratie-Reihe „Wen wähle ich?“ – Interview zur Bundestagswahl 2021 mit MdB Siemtje Möller (SPD). Ort: Lutherkirche, Brommystraße 71, 26384 Wilhelmshaven-Villenviertel.