Ich soll in Worte kleiden, was mich bewegt. Ein Thema herausgreifen, einen Aspekt, ihn beleuchten und darüber hier sprechen. Etwas, das wichtig ist gerade, und etwas, was vermutlich nicht nur mich bewegt, sondern auch Sie.
Aber wissen Sie was? Ich weiß nicht, was ich hier sagen kann oder sollte oder müsste. Es ist so viel gerade, ich kann die Dinge in meinem Kopf nicht mehr sortieren, die Bilder nicht mehr verarbeiten, die Aufgaben nicht mehr priorisieren, die Herausforderungen nicht mehr bewältigen, so scheint es mir. Es ist so viel.
Ich arbeite bei der Migrationsberatung im Diakonischen Werk. Die Ukraine beschäftigt uns, die abendlichen Nachrichten übersetzen wir in Zahlen und Aufgaben und sie erreichen uns in menschlichen Schicksalen.
Ich habe vor zwei Wochen hier bereits berichtet von den Menschen, die vor einigen Jahren zu uns geflüchtet sind, aus verschiedensten Ländern, und die jetzt getriggert sind und verängstigt vom Krieg in der Nachbarschaft. Ich könnte berichten von ihren Ängsten jetzt, nun Flüchtlinge zweiter Klasse zu sein, als Muslime, als diejenigen, die vielleicht schon einige Jahre hier sind, und immer noch nicht auf die Beine gekommen sind und sich schwer tun mit Sprache, Arbeit, Kultur und die nun damit rechnen müssen, kaum noch Toleranz von den Deutschen zu erhalten, denn „nun müssten sie doch so langsam mal wirklich…“. Ich könnte berichten von denen, die immer noch im Mittelmeer ertrinken.
Ich könnte berichten von den neuen Fluchtgeschichten der Ankommenden aus der Ukraine, von ihrer Reise, ihrer Müdigkeit, ihrer Sorge um die Männer und Verwandten, die noch in der Ukraine sind. Ich könnte berichten von Ihrer Fassungslosigkeit und Verzweiflung darüber, dass sie zu Flüchtlingen ohne ein Zuhause geworden sind. Jede Geschichte einzigartig und neu und doch immer von den gleichen Farben der Angst und Erschöpfung unterlegt.
Ich könnte sprechen über die Kriege und Krisen, die in der Welt gerade weniger gesehen werden, Afghanistan, Sudan, Syrien, Eritrea, Myanmar, Irak, Jemen.
Und ich muss all das ja nur sehen und hören und nicht selber durchleiden. Da sollte es mir doch gut gehen, denke ich.
Aber es ist trotzdem schwierig, weil die Probleme so riesengroß sind, das man nicht mehr weiß, wo man anfangen soll, und der Klimawandel ist da, und Corona, und dann sind da ja auch immer noch die Fragen nach vielen alltäglichen Problemen, die ja auch nicht plötzlich weg sind.
Es ist zu viel. Und ich gestehe, wenn es mir zu viel wird, dann wird mein Beten wütend, und ich vergreife mich im Ton und herrsche unseren Gott an und werde laut. „Siehst Du es nicht? Wir Menschen verreißen es hier völlig, tu doch was, wo bist Du?“
Und dann wünschte ich, ich könnte eine Stopptaste drücken, und alles würde innehalten, und ich könnte mich mit einem Kaffee in die Sonne setzen und den Vögeln zuhören und den Wolken zusehen und ich würde an gar nichts denken und gar nichts tun. Außer: Ein – und wieder ausatmen.
Nun, das mit der Stopptaste funktioniert nicht, aber das Innehalten, das ist wichtig. Denn dann wird mein Blick wieder klarer.
Und ich kann sie wieder sehen, die anderen Nachrichten. Und ich höre Gott antworten, der sagt, oh doch, ich war nie weg, sieh hin. Ich kann zwischen den Bildern der Flüchtenden auch wieder die Helfenden sehen, die Suppe und Getränke reichen, die Betten bauen und Transfers einrichten.
Ich kann sie sehen, die Menschen, die sich sogar in Russland immer wieder öffentlich gegen den Krieg und gegen die Regierung stellen, obwohl es lebensgefährlich ist. Menschen demonstrieren, erklären ihre Solidarität mit der Ukraine, mit ukrainischen Freunden und Verwandten. Viele hier lebende russischstämmige Menschen haben uns ihre Hilfe beim Dolmetschen zugesagt und den Krieg gegen die Ukraine scharf verurteilt.
In Moskau hat sich eine Mitarbeiterin des staatlichen Fernsehens während der Live-Nachrichten mit einem „Stop war“ Schild hinter die Sprecherin gestellt, haben Sie es gesehen? Unglaublich, was es für mutige Menschen gibt.
Syrische Migranten, die für mich häufiger bei neu ankommenden arabisch sprechenden Flüchtlingen dolmetschen, sagten die Tage zu mir, ich könne sie auch bei den Ukrainern anrufen. Sprechen können sie dann zwar nicht mit ihnen, aber sie wüssten, was Flüchtlinge hier brauchen, wenn sie neu ankommen, das bekämen sie auch ohne Sprache hin.
Ein deutscher Anrufer bei mir im Büro antwortet auf meine Frage, wie lange er die ukrainische Familie, die er bei sich beherbergt, weiter unterbringen kann, mit „Das kann ich ja nun nicht sagen, wie lange es da unten dauert“. sagt er. „Das wissen wir ja nicht. Wir kommen hier schon klar.“ Ganz undramatisch und bescheiden sagt er zu mir: „Na, rufen Sie man an, wenn Sie noch mehr Leute unterbringen müssen, ein paar kriegen wir hier schon noch unter.“
Und wenn ich noch ein bisschen weiter ein und ausatme, dann sehe ich die Menschen wieder mit anderem Blick. Und kann mich wieder freuen über die Freundlichkeit der Sachbearbeiterin am Telefon. Ich ärgere mich weniger über politisch aggressive Statements, sondern freue mich über jede einzelne kluge und demonstrative Gegenstimme. Ich sehe sie wieder, die Menschen, die besonnen bleiben und ruhig und die weiter versuchen, das Beste zu geben, jeden Tag.
Und dann entschuldige ich mich für meinen Tonfall und sage, ok, Gott, tut mir leid. Es geht wieder.
Versuchen wir weiter, Teil der guten Nachrichten zu sein. Einen anderen Weg gibt es nicht.
Und Du Gott, bist da, am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Theologin Heide Grünefeld, Migrationsberaterin des Diakonischen Werks Friesland-Wilhelmshaven, im Ukraine-Friedensgebet am 15. März 2022 in der Sankt Willehad-Kirche Wilhelmshaven.
Heide Grünefeld im Ukraine-Friedensgebet am 15. März 2022 in der Sankt Willehad-Kirche Wilhelmshaven.
Willkommen zum nächsten Friedensgebet in Wilhelmshaven:
- Dienstag, 26. April 2022 | 18:00 Uhr, ökumenisches Friedensgebet anlässlich des Überfalls Russlands auf die Ukraine. Die Friedensgebete werden getragen von den Gemeinden der St. Willehad-Gemeinde, der Neuapostolischen Kirche, der Banter Kirche und der Luther-Kirche, der Caritas im Dekanat Wilhelmshaven, dem Diakonischen Werk Friesland-Wilhelmshaven und dem Rogate-Kloster Sankt Michael. Ort: St. Willehadkirche, Bremer Straße 53, 26382 Wilhelmshaven.