Am Freitag, 15. Juli 2016, feierten wir den Eröffnungsgottesdienst des 24. Lesbisch-schwulen Stadtfestes Berlin. Daraus hier die Predigt zu „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Predigttext Matthäus 12, 1-8) von Oberkonsistorialrätin Dr. Christina-Maria Bammel:

Dr. Christina-Maria Bammel (Bild: EKBO)
Liebe abendliche Festgemeinde, Brüder und Schwestern, der Auftakt eines Stadtfestes. Und was für eins – fröhlich selbstbewusst, unbeschwert, hoffentlich ohne Zwischenfälle, ohne Störer, ohne Gewalt?
Cory James Connell, Tevin Eugene Crosby, Deonka Drayton, Simon Adrian Carrillo Fernandez, Leroy Valentin Fernandez, Mercedez, Peter O, Juan Ramon, Paul, Frank Hernandez, Miguel Honorato, Javier, Jason, Benjamin.
Das sind Namen der Opfer von Orlando. Nicht alle. Bei weitem nicht. Opfer von sinnloser, kranker Gewalt. Opfer mit Namen, Lebensgeschichten, Schulabschlüssen, Berufen, Erfolgen und Misserfolgen. Sie haben geliebt und gelacht, sie fehlen jetzt. Viel zu schnell und viel zu brutal aus dem Leben und Lieben gerissen. Die Welt hat geweint und Orlando steht noch immer in Schock und Trauer. Wenn die Nachrichtensender abgezogen, die Blumenmeere von der Straßenreinigung abgeholt sind, wenn der Täter selbst festgesetzt oder gar getötet ist, bleibt doch die Frage: War es das letzte Mal? Wie wird das nächste Opfer heißen? Die nächsten Opfer? Wird das Land je begreifen? Auf den Demonstrationen in den Tagen danach war auf Schildern zu lesen: “Ich bin eine Zielscheibe.” Oder “Bin ich das nächste Opfer?”
Tausende von Menschen haben sich gezeigt, sind Hand in Hand gegangen, vereint in der Sehnsucht: Um Himmels willen keine weiteren Opferlisten mehr, keine Opferverzeichnisse mehr, in denen man den Namen eines lieben Freundes, einer Angehörigen suchen muss. Und dann diese Gewissheit haben, die alles zerreißt. Nein, bloß solche Listen von Opfern nicht mehr sehen und erleben müssen. Wieviele Opferlisten mussten wir lesen und müssten wir noch niederschreiben, wollten wir all die Namen sammeln, derer, die dem Ausgrenzungswahn und der Feindseligkeit geopfert wurden. Namen, die festgelegten angeblich immer schon so gewesenen Normen geopfert wurden, die ausgesprochen lebensverneinenden Moralvorstellungen und herrschenden Meinungen buchstäblich geopfert wurden. Opfererfahrungen unzähliger Art auch mitten im Leben. Opfer von morbider, irrationaler Scheu in Sachen sexueller Prägung. Etliche von Ihnen könnten davon erzählen, eigene schmerzliche Erfahrungen berichten, Verluste benennen. Opfer von Homophobie, einer Furcht, die unmenschlich macht und sogar in die Bereitschaft führen kann zu töten. Der tödliche Schuss, die angetane mörderische Gewalt – sie ist die grausame Spitze eines Berges von Opferlisten.
Nein, diese Opfer sollen nicht mehr sein, jene im Sinne der victims. Keine victims mehr – nicht in Orlando, nicht in Brüssel, Istanbul oder Nizza! Es gibt schon so viele zu erinnern, ihrer zu gedenken, sie im Gedächtnis zu behalten. Und dafür ist es heute Abend Ort und Zeit: Im Gedächtnis halten, auch das ist ein Teil unseres Feierns. Jeder Gottesdienst ist ein solches Im-Gedächtnis-halten. Wir sind nicht für uns selber da, wir nehmen in das feiernde Erinnern all jene hinein, die bei Gott Namen, Würde haben; sie haben auch in unserem Gedächtnis nach menschenmöglicher Weise Namen und Gedächtnis. Feiern ist auch dieses: im Gedächtnis halten. Auch mit weinenden Augen und Herzen.
Wir halten Gedächtnis auch im Wissen um das andere Opfer, das sacrificium/ sacrifice. Unser Glauben kommt von ganz wesentlich von hier. Dieses Opferwort, sacrificium, es ist ein Beziehungswort. Es erzählt etwas über unsere Beziehung mit dem, der dieses Opfer erhält. Schon zu Zeiten des Tempels in Jerusalem haben Menschen Gott etwas dargeboten, angeboten, um der Beziehung willen. Im englischen offer finden wir noch etwas von diesem Gott-etwas-Darbieten wieder, auch wenn das offer längst ein Kaufe-und-Verkaufe-Wort geworden ist.
Allerdings: Gebet, Erfüllung der Mizwot, Studium der Tora, sie wurden nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem zunehmend zu den eigentlichen, geistige Opfern. Darüber haben sich die Rabbinen intensiv ausgetauscht. Olah, Mincha, Sebach, Chattat, Ascham, all diese Opferarten wurden nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem mehr und mehr abgelöst. Eben durch die geistigen Opfer, die Beziehung mit Gott stiften, diese erhalten, nähren und stärken: Gebet, Erfüllung der Mizwot, Studium der Tora. Wenn es darum geht, mit Gott in Beziehung zu bleiben, dann darf es nicht darum gehen, ob die eine Gabe, das eine Opfer, besser ist als das andere.. Entscheidend ist doch, mit welcher Herzenskraft, mit welcher Haltung diese Gabe, dieses Opfer Gott zu Füßen oder Gott in den Arm gelegt wird. Das hatte auch schon der Prophet Hosea für wichtig gehalten.
Er selbst bekam dieses Wort Gottes in den Mund gelegt: „Denn ich habe Lust an der Liebe, und nicht am Opfer, und an der Erkenntnis Gottes, und nicht am Brandopfer.“ Nicht das Eine gegen das Andere ausspielen. Nicht Opfer oder Liebe. Sondern schlicht sehen: Opfer ohne Lust, Opfer ohne Liebe, sind wertlose Gaben, weil sie keine Beziehung stiften. Ich nehme sie nicht direkt von meinem Herzen.
Was geben Menschen von sich für andere, für den anderen auch Geliebten hinein, um die Beziehung, um die Liebe siegen zu lassen? Manchmal in Form von Opfern, und zwar im besten Sinne: Als Beziehungsvertiefer, als wertvollste Gabe von Herzen kommend zum Herzen des anderen geradewegs gehend. Opfer als Beziehungsvertiefer sind keine wertlosen überholten Gaben. Diese Gaben erhalten das Lebensmittel Liebe.
Als ich vor 20 Jahren in der city of brotherly love studierte, in Philadelphia keine zwei Stunden von New York entfernt, da teilte ich das Haus mit 7 Frauen. Auf der Etage nebenan wohnten Pam und Cathy. Pam aus dem ärmsten Viertel der Stadt stammend, sichtbar schwer fehlernährt, mit abgebrochener Schulbiographie und vielen Verletzungserfahrungen in der Herkunftsfamilie. Und Cathy, ihre große Liebe, erfolgreicher shooting-star der Biowissenschaften aus Canada stammend auf ein Gastsemester an die Pennsylvania University gekommen. Zu Haus in Canada war die große Karriere schon mit Händen zu greifen. Aber Pam, die sich nie im Leben vorstellen konnte, ihre Heimatstadt zu verlassen, Pam hielt Cathy fest. Kanada war keine Option. Und Cathy ließ sich halten. Manche Gaben sind in Form und Gestalt von Entscheidungen auch Beziehungsvertiefer. Partnerschaft und Liebe sind keine Einbahnstraßen, sondern immer Gelegenheit über sich hinaus zu wachsen und zu reifen. Pam wuchs über sich hinaus, indem Cathy ihr die Türen in eine Ausbildung öffnete, ihr die Welt zeigte. Am Morgen des 11. September 2001 befand sich Pam gerade in einem Bewerbungsgespräch in einem der twin tower in New York…
Die Liebe siegt und empfindet sich unter Umständen gar nicht als Opfer zugunsten des Anderen. Die Liebe siegt.
„Love defeats hate, light defeats darkness!“/ Liebe überwindet den Hass, Licht überwindet die Dunkelheit. So ähnlich war auf leuchtenden Bannern zu lesen – in Orlando. Und dahinter der Regenbogen. Eine Nation versinkt doch nicht ganz in Trauer und Gewalt. Eine Nation versucht, mit vielen anderen Menschen auf der Welt das Leben ins Licht zu heben….
In dieser Reihe stehen auch wir heute Abend, feiernd, in dem wir die Erinnerung binden an die Hoffnung; indem wir das Gedenken an die Opfer zusammen binden mit der unbändigen Lust am Leben und am Lieben; das versuchen Menschen guten Willens an vielen Orten, das versuchen zahlreiche Bewegungen wie auch die LGBT community – und zwar im Namen der Liebe.
Im Namen der Liebe, im Namen der Sorge um den Nächsten, um die Nächste, müssen gegebenenfalls auch Gesetze ausgesetzt werden. Davon spricht Jesus, wenn er im Namen der Menschlichkeit übermäßigen Hunger stillt und ein Sabbatruhegesetz mit der Weite des Herzens lesen kann.
Er liest dieses Gesetz mit den Augen der Barmherzigkeit, mit den Augen der Güte. Güte und Barmherzigkeit sind Schwestern, die zur großen Familie der Liebe gehören.
Die Barmherzigkeit als Weite des Herzens ist die Lieblingshaltung Gottes, die uns umarmt. Niemand soll hungrig vor Liebe, hungrig in Sachen Liebe von Gottes Tisch wieder aufstehen und weg gehen.
Es ist diese Gottes-Haltung des Umarmens, die können auch wir. Dazu sind wir sogar beauftragt. Das meint: Wir sind als Christen nicht in der Welt um zu verurteilen, sondern um die Herzen zu öffnen. Manchmal fordert uns das viel ab, sogar ein Opfer. Aber es bleibt dabei, das ist unsere erste Aufgabe! Dafür haben wir ein Maß:
Gott ist das Maß der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist nicht mit Herablassung zu verwechseln. Barmherzigkeit braucht Neubesinnung und bitte nicht nur nach innen gerichtet. Barmherzigkeit bedeutet, empfindsam bleiben für die erbarmungswürdigen Zeichen dieser Zeit, für die Wundmale dieser Zeit, geschlagen durch Barbarei, wie auch wieder in der vergangenen Nacht.
Wie kommt Barmherzigkeit in mir zum Ziel, vor allem aber zum Wirken? Zunächst mal die Festelltung, ob wir vielleicht zu wenig Barmherzigkeit gelebt haben. Vielleicht haben wir als Christen zu blut- und zu kraftlos von der Barmherzigkeit gesprochen in den vergangenen Jahren. Vielleicht haben wir auch den falschen Gebrauch zugelassen. Eine falsch verstandene Barmherzigkeit – in paternalistischer Weise von oben herab gegenüber Minderheiten etwa. Schluss damit. Wir wissen: Barmherzigkeit ist nicht billig zu haben, sie ist kein Widerspruch zum Recht, zu den Ordnungen, Barmherzigkeit ist: Aufatmen lassen.
Nur indem wir selbst Barmherzigkeit, das barmende Herz, das angesprochene Herz wirken lassen in uns, nur dann können wir uns auch positionieren gegen Hochmut und Verächtlichmachung. Ja, wir setzen unsere ganze und vor allem Gottes Barmherzigkeit dagegen. Wissend: Barmherzigkeit ist eine Haltung, keine Handlung, schon gar keine einmalige. Unbarmherzig ist es dagegen, aus menschlicher Selbstüberschätzung heraus Gottes Liebe verknappen zu wollen. Unbarmherzig und ausgesprochen unredlich ist es, den Zuspruch Gottes an alle Menschen dieser Erde, aus Gottes Mund zurück nehmen zu wollen, ihn eingrenzen zu wollen.
Unbarmherzig ist beispielsweise der viel zu oft gehörte Satz, nicht alle Paare sollen den gleichen Gottesdienst haben, wenn sie ihre Liebe unter Gottes Anspruch und Zuspruch stellen wollen. Wer so argumentiert, der liest die Ordnungen Gottes gerade nicht mit Herzensweite. Herzensweite aber ist in bestem und altem Sinne Liberalität, wie wir sie meinen.
Unredlich und fernab aller Barmherzigkeit ist es, Menschen ganz gleich welcher sexuellen Identität entgegen zu schleudern, Gott liebe ja alle Sünder. Hin und wieder habe ich das in vergangenen Diskussionen gehört und bin es so leid. Aber nicht zu müde, um zurück zu sagen: Eine Identität ist eine Identität, ist keine Sünde.
Etwas ganz anderes aber stellt uns alle an den Abgrund der Sünde: da wo wir nicht mehr auf Gottes Kraft setzen, wo wir aufhören einander zu vertrauen. Da stehen alle am Abgrund der Sünde, wo Liebe verzwängt und verknappt wird. Von diesem Abgrund lasst uns zurücktreten.
„Die Liebe überwältigt den Hass, das Licht die Dunkelheit.“
Kreuz und quer wollen wir das weitersagen und weitersingen, mit geöffneten, mit barmendem Herzen, mit all der Güte und der Kraft zur Barmherzigkeit, die in uns ist. Es wird uns einiges kosten. Aber was ist dieses Opfer schon verglichen damit, was wir gewonnen haben, indem wir lieben können, ganz gleich in welcher Orientierung und Identität.
Allen Menschen Zeit zum Aufatmen geben, sie aufatmen lassen und damit der Seele neue Kraft zufließen lassen – das ist Liebe im Kleid der Barmherzigkeit. Wir brauchen sie, ersehnen sie.
Kommt, sagt Jesus, ich gehe mit euch durch die Felder weil sie reif sind, weil geerntet und genährt werden wird. Und niemand geht mit leeren Händen davon. Niemand bleibt außen vor. Dafür ist es Zeit: Zeit der Barmherzigkeit.
Willkommen zu unseren nächsten öffentlichen Gottesdiensten in der Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, 10783 Berlin-Schöneberg: