Fünf Fragen an: Christiane Schulz, Brot für die Welt

Fünf Fragen an Christiane Schulz, Leiterin des Regionalbüros von „Brot für die Welt“ (BfdW) in Costa Rica, zu vielfältigen Visionen von Armut, lokalen Massnahmen gegen die Klimafolgen und die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine für Mittelamerika. Ein Interview von Florian Wiese im Rahmen des Rogate-Demokratieprojekts „FrieslandVisionen: Wie wollen wir morgen leben?“.

Christiane Schulz, Brot für die Welt (Bild: privat)

Dr. Christiane Schulz ist Politikwissenschaftlerin und leitet die Verbindungsstelle von BfdW in Costa Rica seit Anfang 2018. Zuvor war sie beim Deutschen Institut für Menschenrechte verantwortlich für das Programm „Schutz vor gewaltsamem Verschwindenlassen“. Ihr geographischer Schwerpunkt liegt in Lateinamerika, ihr inhaltlicher Schwerpunkt bei den Menschenrechten.

Rogate-Frage: Sie arbeiten für „Brot für die Welt“. Was hat Sie in das Berufsfeld Entwicklungszusammenarbeit und schließlich nach Costa Rica geführt?

Christiane Schulz: Das Gewaltniveau in mehreren Ländern Zentralamerika zählt weltweit zu den Höchsten. Politische Entscheidungsträger agieren in unterschiedlichen Konstellationen mit Banden der organisierten Kriminalität und den wirtschaftlichen Eliten. Die in diesem Kontext entstehenden sozialen Konflikte werden seit Jahren gewaltsam unterdrückt. Vor Ort ansässige regional tätige Partnerorganisationen und die politische Stabilität in Costa Rica bieten das geeignete Umfeld, um von hier aus in den Ländern Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua zu arbeiten. Wir können dank der regionalen Nähe und Präsenz eng mit der hiesigen Zivilgesellschaft zusammen arbeiten. Ich habe bereits Anfang der 1990er Jahre Menschenrechtsarbeit in Guatemala geleistet und auch in den Folgejahren lag mein Arbeitsschwerpunkt in Lateinamerika. Nun habe ich die Möglichkeit der direkten Zusammenarbeit mit der hiesigen Zivilgesellschaft in ganz Zentralamerika und gleichzeitig übernehmen wir als regionale Verbindungsstelle von Brot für die Welt eine Brückenfunktion für die Anliegen der Partner nach Deutschland.

Rogate-Frage: Wie definieren Sie Entwicklungszusammenarbeit und welche Ziele verfolgt „Brot für die Welt“ damit konkret?

Christiane Schulz: Entwicklungszusammenarbeit beinhaltet vor allem das Schaffen von gleichberechtigten Zugängen zu Ernährung, Wohnraum, Gesundheit, Bildung – also zu einem menschenwürdigen Leben ohne Armut. Dabei gilt es die vielfältigen Dimensionen von Armut aufzuheben. Die Möglichkeiten, Veränderungen im Sinne der Betroffenen herbeizuführen, sind vielfältig und je nach Kontext unterschiedlich. In Guatemala beispielsweise fördert Brot für die Welt den Aufbau dezentraler kommunaler Minikraftwerke und sichert so eine Minimalversorgung mit Strom in entlegenen ländlichen Regionen. In El Salvador liegt ein Schwerpunkt der partnerschaftlichen Kooperation in der nachhaltigen Ressourcennutzung und Umsetzung agrarökologischer Praktiken. In Honduras begleitet eine Frauenorganisation Arbeiter*innen aus Teilfertigungsfabriken (Maquiladoras), um arbeitsrechtliche und gesundheitliche Missstände zu beheben. Wichtig ist neben der Umsetzung lokaler Maßnahmen vor Ort die regionale und überregionale Zusammenarbeit, um beispielsweise die Folgen des Klimawandels zu bearbeiten.

Rogate-Frage: Was genau macht eine „Brot für die Welt“-Verbindungsstelle und insbesondere Ihr Büro in Costa Rica?

Christiane Schulz: Die Verbindungsstelle von Brot für die Welt begleitet in Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica Partnerorganisationen. Das heißt wir führen den Dialog mit den Nicht-Regierungsorganisationen, bearbeiten die eingehenden Anträge und stehen während der Projektumsetzung in einem regelmäßigen Austausch mit den Partnerorganisationen. Maßnahmen der Rechenschaftslegung sichern die Transparenz über die Verwendung der Projektgelder. Wir unterstützen lokale Organisationen im Rahmen der finanziellen Förderung als auch der personellen Förderung, das heißt der Entsendung von Fachkräften. Zudem begleitet das Büro die lokalen Organisationen inhaltlich. Aktuell bearbeiten wir gemeinsam mit Partnerorganisationen vier inhaltliche Themenbereiche: Klimawandel, Migration, Schutz für Menschenrechtsverteidiger*innen, sowie der zunehmend eingeschränkte Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft.

Rogate-Frage: Welche Art Projekte begleiten Sie aktuell in Zentralamerika und welche Ziele sollen erreicht werden?

Christiane Schulz: Der zentralamerikanische Kontext ist aktuell von vielfältigen Armutsproblematiken, gravierenden Folgen durch den Klimawandel bei einem gleichzeitig stark eingeschränktem Handlungsspielraum für zivilgesellschaftliche Akteure geprägt. Unter diesen Bedingungen sind insbesondere Maßnahmen wichtig, die die Ernährungssicherheit der Bevölkerung sichern, Aktivitäten zum Schutz vor Klimawandel und Menschenrechtsarbeit. Diese drei Bereiche stehen in einem engen Zusammenhang miteinander. Nur eine Überwindung der Armutsproblematik bietet der Bevölkerung auch mittel- und langfristige Perspektiven. Leider sind gerade jene, die sich an demokratischen Gestaltungsprozessen beteiligen und sich für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte einsetzen, besonders häufig von Übergriffen durch staatliche oder private Akteure bedroht. Neben der lokalen Verbesserung der Lebenssituation muss es also auch darum gehen, sicher zu stellen, dass die Betroffenen aktiv und ohne Sorge um Leib und Leben an den entsprechenden politischen Prozessen zur Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens beteiligt sein können.

Rogate-Frage: Wie hat sich Ihr Arbeit vor Ort und die der von Ihnen betreuten Projekte durch die Corona-Pandemie und Russlands Angriffskrieg geändert und wird sich die Entwicklungszusammenarbeit durch diese multiplen Krisen verändern?

Christiane Schulz: Die Bevölkerung Zentralamerikas und jeweiligen Organisationen vor Ort waren und sind vielfältig von der Corona-Pandemie betroffen. Erstens ist das staatliche Gesundheitswesen hier schlecht ausgebaut. Es gab weder Desinfektionsmittel noch medizinische Masken, um sich vor der Ansteckung zu schützen. Der Zugang zu einer Behandlung im Krankheitsfall war und ist für die Bevölkerungsmehrheit nicht sichergestellt. Entsprechend hoch sind auch die Todesfälle, besonders in Guatemala. Hier sind über 18.000 an COVID Erkrankte verstorben. Zweitens gab es in fast allen Ländern der Region repressive Maßnahmen unter dem Vorwand die Pandemie einzuschränken: Personen die sich angeblich ohne Berechtigung im auf der Straße bewegten, wurden willkürlich in sogenannte Quarantänelager gesteckt, die Hafteinrichtungen glichen. Viele Menschen verloren ihren Arbeitsplatz. Während der Pandemie verwüsteten zudem im November 2020 zwei Tropenstürme weite Landstriche von Nicaragua und Honduras sowie in Guatemala. Die Infrastruktur, Straßen, Brücken, Krankenhäuser, Schulen, Wohnraum wurde ebenso zerstört wie die Ernte. Die Schäden sind bis heute nicht behoben.

Diese prekäre Situation wird durch die Folgen des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine weiter verschärft. Lieferengpässe sowohl für Industriegüter als auch für Düngemittel verschlechtern die wirtschaftliche Situation. Die Inflationsraten sind seit Beginn der Pandemie extrem gestiegen. Für weite Teile der Bevölkerung in Zentralamerika bedeutet dies, dass sie Hunger leiden und unter den vielfältigen Folgen von Armut leiden.

Rogate: Vielen Dank, Frau Schulz, für das Gespräch!

Weitere Interviews in der Reihe Freitagsfragen (Rogate-Kloster Sankt Michael zu Berlin ISSN 2367-3710) – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de.


Willkommen zu unseren nächsten Rogate-Gottesdiensten und Terminen:

  • Freitag, 15. Juli 2022 | 19:30 Uhr, „Wenn ich ein Engel wäre, dann….“, ökumenischer Eröffnungsgottesdienst zum 28. lesbisch-schwulen Stadtfest Berlin. Predigt: Pfarrer_in Anna Trapp, Evangelischer Pfarrsprengel Bad Wilsnack. Mitwirkende: Christopher Schreiber (Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg e.V.), Dekan Ulf-Martin Schmidt (Alt-katholische Pfarrgemeinde Berlin), Pfarrer Burkhard Bornemann (Evangelische Zwölf-Apostel-Kirchengemeinde) und Br. Franziskus (Rogate-Kloster). Ort: Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, Berlin-Schöneberg.
  • Dienstag, 26. Juli 2022 | 18:00 Uhr, ökumenisches Friedensgebet anlässlich des Überfalls Russlands auf die Ukraine. Die Friedensgebete werden getragen von den Gemeinden der St. Willehad-Gemeinde, der Neuapostolischen Kirche, der Banter Kirche und der Luther-Kirche, der Caritas im Dekanat Wilhelmshaven, dem Diakonischen Werk Friesland-Wilhelmshaven und dem Rogate-Kloster Sankt Michael. Ort: St. Willehadkirche, Bremer Straße 53, 26382 Wilhelmshaven.
  • Sonntag 31. Juli 2022 | 10:00 Uhr, Eucharistie. Predigt: Br. Franziskus. Ort: Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, Berlin-Schöneberg.
  • Sonntag, 4. September 2022 | 10:00 Uhr, Eucharistie. Predigt: Br. Franziskus. Ort: Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, Berlin-Schöneberg.

Fünf Fragen an: Rainer Teuber, Aktion „#OutinChurch – für eine Kirche ohne Angst“

Fünf Fragen an Rainer Teuber, Aktion „Out in Church – für eine Kirche ohne Angst“, über 125 mutige queere Katholik*innen, Sorge vor dienstrechlichen Konsequenzen und Akzente der Erneuerung. Ein Interview im Rahmen des Rogate-Demokratieprojekts „FrieslandVisionen: Wie wollen wir morgen leben?“.

Rainer Teuber (Bild: Nicole Cronauge, Bistum Essen)

Rainer Teuber, geboren in Essen, ist seit 1996 in der katholischen Kirche beschäftigt. Er verantwortet am Essener Dom und seiner Schatzkammer die Museumspädagogik und den Besucherservice. Er ist schwul und seit 2003 mit seinem Mann Karl-Heinz verheiratet. Auch privat sind beide in der Gemeindearbeit engagiert.

Rogate-Frage: Herr Teuber, was genau ist #outinchurch und wer ist daran beteiligt?

Rainer Teuber: Bei der Initiative #OutInChurch outen sich heute 125 queere Menschen, die im Dienst der katholischen Kirche stehen. Die Beteiligten kommen aus nahezu allen Bistümern und bilden das gesamte Spektrum kirchlicher Arbeitsfelder ab. Unter ihnen sind Religionslehrer*innen, Gemeindereferent*innen, Pastoralreferent*innen, Kirchenmusiker*innen, Religionspädagog*innen aber natürlich auch einige Priester.

Rogate-Frage: Sie werben „für eine Kirche ohne Angst“. Wo und wie erleben Sie in der Kirche Ängste in diesem Zusammenhängen?

Aktionslogo #outinchurch

Rainer Teuber: Menschen die queer sind, öffentlich queer leben, in dem sie zum Beispiel eine eingetragene Lebenspartnerschatt oder eine Zivilehe schließen und für die katholische Arbeiten müssen mit schweren dienstrechtlichen Konsequenzen rechnen, da sie mit ihrem öffentlichen Bekenntnis einen schweren Looyalitätsverstoß gegen ihren Arbeisvertrag begehen, der auch die kirchliche Grundordnung umfasstt. Nach dieser Grundordnung kann ein öffentliches Bekenntnis zu einer solchen Partnerschaft beziehungsweise Ehe zur fristlosen Kündigung führen.

Rogate-Frage: Was müsste sich in den Bistümern und kirchlichen Institutionen sofort ändern und was braucht es aus Ihrer Sicht dazu?

Rainer Teuber: Das kirchliche Arbeitsrecht muss reformiert werden. Die entsprechenden Paragrafen, die Menschen in ihrer Persönlichkeit einschränken, müssen entfernt werden. LGBTIQ+-Personen müssen in dieser Kirche ohne Angst offen leben und arbeiten können. Sie müssen einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen Handlungs- und Berufsfeldern in der Kirche erhalten. Diffamierende und nicht zeitgemäße Aussagen der kirchlichen Lehre zu Geschlechtlichkeit und Sexualität müssen auf Grundlage theologischer und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse revidiert werden. Dies ist besonders in weltweiter kirchlicher Verantwortung für die Menschenrechte von LGBTIQ+-Personen von höchster Relevanz.

Die Kirche darf darüber hinaus LGBTIQ+-Personen beziehungsweise Paaren den Segen Gottes sowie den Zugang zu den Sakramenten nicht vorenthalten.

Rogate-Frage: Was macht Ihnen Hoffnung? Sind dabei Papst Franziskus oder der „Synodalen Weg“ hilfreich?

Rainer Teuber: Hoffnung macht mir, dass sich so viele Menschen – trotz der derzeitigen Krisensituation, in der sich unsere Kirche befindet -, noch immer für die Botschaft Jesu in dieser Kirche starkmachen. Sie alle möchten das System Kirche verändern, ja revolutionieren. Papst Franziskus ist in seinen Äußerungen schwer einzuschätzen. Manches gab Anlass zur Hoffnung auf Veränderungen, bei manchem schien es aber auch so, als solle möglichst alles so bleiben wie es ist. Der synodale Weg hat ihr die große Chance, wichtige Reformprojekte auf der Agenda zu halten und kann sicherlich wertvolle Akzente zur Erneuerung setzen.

Rogate-Frage: Manche raten römisch-katholischen Christen, angesichts der aktuellen Situation und Lehre, die Konfession und bisherige Kirche zu verlassen und beispielsweise in die evangelische oder alt-katholische Kirche zu konvertieren. Was sagen Sie denen?

Rainer Teuber: Ich kann jede und jeden verstehen, der unserer Kirche den Rücken zugewendet hat oder die Konfession gewechselt hat. Für viele Menschen möchten aber auch Teil der katholischen Kirche sein und bleiben, um das System von innen heraus zu ändern und neu zu gestalten. Ein kräftezehrender aber sicherlich nicht aussichtsloser Weg.

Rogate: Vielen Dank, Herr Teuber, für das Gespräch!

Zur Aktion gibt es die ARD-TV- und Multimedia-Produktion „Wie Gott uns schuf„: „Es sind Priester, Ordensbrüder, Gemeindereferentinnen, Bistums-Mitarbeitende, Religionslehrer, Kindergärtnerinnen, Sozialarbeiter und vieles mehr. Hundert Gläubige outen sich und berichten von ihren Erfahrungen als queere Menschen in der katholischen Kirche. Eine Investigativ-Recherche im Auftrag von rbb, SWR und NDR.“ Sie finden Sie hier.

Weitere Interviews in der Reihe Freitagsfragen (Rogate-Kloster Sankt Michael zu Berlin ISSN 2367-3710) – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de.


Willkommen zu unseren nächsten Rogate-Terminen im Zusammenhang mit unserem Demokratieprojekt „FrieslandVisionen: Wie wollen wir morgen leben?“

  • Donnerstag, 10. Februar 2022 | 19:30 Uhr, Ökumenische Klimakanzel mit Dr. Ing. Martin Dehrendorf, Jever, Bau- und Umweltdezernent, Landkreis Friesland. Mitwirkende: Kreispfarrer Christian Scheuer (Ev.-luth. Kirchenkreis Friesland-Wilhelmshaven), Diakon Klaus Elfert (St. Bonifatius-Gemeinde) und Br. Franziskus (Rogate-Kloster). Ort: Sankt Bonifatiuskirche, Bürgermeister-Heidenreich-Str. 4, 26316 Varel.
  • Donnerstag, 17. Februar 2022 | 19:30 Uhr, Ökumenische Klimakanzel mit Jürgen Rahmel, Varel, Dezernent Biosphärenreservat in der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer. Mitwirkende: Pfarrer Manfred Janssen (St. Bonifatius-Gemeinde) und Br. Franziskus (Rogate-Kloster). Ort: Sankt Bonifatiuskirche, Bürgermeister-Heidenreich-Str. 4, 26316 Varel.
  • Donnerstag, 24. Februar 2022 | 19:30 Uhr, Ökumenische Klimakanzel mit Siemtje Möller, Varel, Mitglied des Deutschen Bundestages und Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium der Verteidigung. Mitwirkende: Pfarrer Manfred Janssen (St. Bonifatius-Gemeinde) und Br. Franziskus (Rogate-Kloster). Ort: Sankt Bonifatiuskirche, Bürgermeister-Heidenreich-Str. 4, 26316 Varel.

Fünf Fragen an: Liza Pflaum, Bewegung Seebrücke

Fünf Fragen an Liza Pflaum, Mitbegründerin Seebrücke und Gründungsmitglied des Vereins United4Rescue, über Fluchtgründe, den politischen Rückhalt durch das Bündnis der 770 Mitglieder und wie sich Kirchengemeinden gegen den Tod im Mittelmeer engagieren.

Liza Pflaum (Bild: United4Rescue)

Liza Pflaum ist Politikwissenschaftlerin und engagiert sich insbesondere für die Rechte von geflüchteten Menschen und für sichere Fluchtwege nach Europa.

Rogate-Frage: Frau Pflaum, warum gibt es aus Ihrer Sicht eine Pflicht zur Seenotrettung im Mittelmeer?

Liza Pflaum: Die Pflicht zur Rettung aller Menschen, die in Seenot geraten, egal wer und egal wo, ist zuallererst im internationalen Seerecht festgelegt. Darüber hinaus ist es ethisch und menschlich das einzig Richtige. Es würde sich auch niemand fragen, ob es richtig ist die Feuerwehr zu rufen, wenn ein Haus brennt.

Rogate-Frage: Was entgegnen Sie denen, die meinen, dass die Rettung aus Seenot Menschen zur Flucht über das Meer verleiten würde?

Liza Pflaum: Das ist schlicht falsch. Menschen fliehen, weil sie keinen anderen Ausweg sehen. Die Flucht fängt meist schon weit früher als bei der Überfahrt über das zentrale Mittelmeer an. Menschen fliehen aufgrund von Krieg, Verfolgung oder weil sie keine Zukunft für sich und ihre Familie in ihrer Heimat sehen und nicht weil es zivile Seenotrettungsschiffe gibt. Auch in Zeiten, in denen kein einziges Schiff im zentralen Mittelmeer im Einsatz war, sind nicht weniger viele Menschen geflohen. Wenn Schiffe im Einsatz sind ist also der einzige Unterschied, dass weniger Menschen sterben.

Rogate-Frage: Was genau ist das United4Rescue und wie arbeitet Ihre Organisation?

Liza Pflaum: United4Rescue hat als Initiative der EKD begonnen, mit dem Auftrag die zivile Seenotrettung zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass weitere Rettungsschiffe in den Einsatz kommen. Mittlerweile ist United4Rescue – Gemeinsam retten e.V. ein unabhängiges und breites Bündnis aus über 770 verschiedenen Organisationen, die hinter den zivilen Seenotrettung stehen und bereits das zweite Schiff in den Einsatz geschickt haben. Einerseits sorgt United4Rescue mit Hilfe von Fundraising-Kampagnen für die nötige finanzielle Unterstützung, andererseits steht die Breite des Bündnisses für politischen Rückhalt.

Rogate-Frage: Mittlerweile sind zwei Schiffe, die von United unterstützt werden, in der Seenotrettung tätig. Wo befinden sich diese und wie sieht der Einsatz im Mittelmeer aus?

Liza Pflaum: Beide Schiffe befinden sich im Einsatz im zentralen Mittelmeer. Das eine wird von Sea-Watch e.V. und das andere von Sea-Eye e.V. betrieben. Derzeit befinden sich sehr viele Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer. Beide Schiffe haben bereits nach den ersten Einsätzen schon mehrere hundert Menschen vor dem Ertrinken gerettet. In der Regel wird nach einer Rettung der nächste sichere Hafen angelaufen, um die Menschen an Land in Sicherheit zu bringen. Allerdings werden die Rettungseinsätze der zivilen Seenotrettungsschiffe seit 2018 von Seiten der Europäischen Union massiv blockiert.

Rogate-Frage: Es hat sich ein großes Bündnis gebildet. Wie breit ist das Spektrum, welche Rolle spielen die Kirche dabei und welche Aufgaben haben die Bündnismitglieder?

Liza Pflaum: Das Bündnis ist vom politischen Spektrum sehr breit und reicht von einem kleinen Buchladen, Bioladen oder Kita, über Kirchengemeinden, größere Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, der Bewegung Seebrücke bis zu Unternehmen wie Ben & Jerry’s und Anwaltskanzleien. Es sind unzählige Gemeinden mit in dem Bündnis und das gesamte Projekt wurde von der EKD angestoßen. Viele Gemeinden unterstützen uns aktiv mit Kollekten, kreativen Aktionen und Infoveranstaltungen zu unserer Arbeit. Dies ist ein enorm wichtiges politisches Signal, welches eben auch noch viele weitere Organisationen dazu gebracht hat, sich zu diesem Thema zu positionieren und für die Rechte von geflüchteten Menschen stark zu machen

Rogate: Vielen Dank, Frau Pflaum, für das Gespräch!

Weitere Freitagsfragen (Rogate-Kloster Sankt Michael zu Berlin ISSN 2367-3710) – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de. Das Rogate-Kloster Sankt Michael und der Förderverein Sankt Michael sind Mitglied im Bündnis United4Rescue.

__________________________________

Herzlich willkommen zu unseren nächsten öffentlichen Andachten und Gottesdiensten:

  • Donnerstag, 27. Mai 2021 | 17:00 Uhr, Feierstunde Übergabe der „Berliner Ehrennadel für besonderes soziales Engagement“. Musik: Felicitas Eickelberg. Ort: Zwölf-Apostel-Kirche.
  • Donnerstag, 27. Mai 2021 | 18:30 Uhr, Vesper (Abendgebet). Musik: Felicitas Eickelberg. Ort: Zwölf-Apostel-Kirche.
  • Freitag, 3. September 2021 | 19:30 Uhr, Gebet für die Stadt – zur Eröffnung des CSD Wilhelmshaven. Musik: Landeskirchenmusikdirektorin Beate Besser, Oldenburg. Liturgie: N.N. und Br. Franziskus. Ort: Lutherkirche, Brommystr. 71, 26384 Wilhelmshaven-Villenviertel.
  • Freitag, 1. Oktober 2021 | 19:30 Uhr, „Wenn ich ein Engel wäre, dann….“, ökumenischer Eröffnungsgottesdienst zum 28. lesbisch-schwulen Stadtfest Berlin. Predigt: Pfarrer_in Anna Trapp, Evangelischer Pfarrsprengel Bad Wilsnack. Ort: Zwölf-Apostel-Kirche, Berlin-Schöneberg.
  • Sonntag, 3. Oktober 2021 | 11:00 Uhr, Erntedank-Gottesdienst für Mensch und Tier zum Franziskusfest. Predigt: N.N.. Liturgie: Pfarrer Burkhard Bornemann, Zwölf-Apostel-Gemeinde, und Bruder Franziskus, Rogate-Kloster. Ort: Zwölf-Apostel-Kirche Berlin-Schöneberg.

Fünf Fragen an: Pfarrer Joachim Lenz, Bündnis United4Rescue

Fünf Fragen an Pfarrer Joachim Lenz, Sprecher des Bündnisses United4Rescue, über die Untätigkeit maltesischer Behörden in der Osternacht, die Indienststellung der „Seawatch 4“ und die Hoffnung auf die Vermittlung durch die europäische Kommission.

Pfarrer Joachim Lenz (Bild: Stadtmission Berlin)

Joachim Lenz ist 58 Jahre alt und war Dorfpfarrer an der Mosel, Kirchentagspastor und Direktor der Berliner Stadtmission. Ab Sommer soll er als evangelischer Propst in Jerusalem leben und arbeiten. Lenz engagiert sich als ehrenamtlicher Pressesprecher im Verein „Gemeinsam retten e.V.“, der das Bündnis United4Rescue organisiert.

Rogate-Frage: Herr Pfarrer Lenz, Sie haben in der Osternacht mit Sorge auf Ereignisse im Mittelmehr geblickt. Was ist dort passiert?

Joachim Lenz: Vier Boote mit insgesamt über 250 flüchtenden Menschen versuchten, Europa zu erreichen. In der Osternacht baten sie telefonisch um Hilfe, weil ihren Booten die Luft ausging. Die zuständigen Behörden in Malta wurden informiert, reagierten aber in keiner Weise. Ein Aufklärungsflugzeug des europäischen Grenzschutzes Frontex überflog das Seegebiet und machte die Boote aus, leitete aber keine erkennbaren Rettungsaktionen in die Wege.

Rogate-Frage: Welche Folgen ergeben sich für Sie daraus?

Joachim Lenz: Als Bündnis United4Rescue haben wir die Informationen, die über die Seenotrettungsorganisationen Alarm_Phone und Sea-Watch bei uns ankamen, an die Öffentlichkeit weitergeleitet. Es gibt ja klare Regelungen für die Seenotrettung: Es muss geholfen werden! Das ist im Völkerrecht, im internationalen Seerecht und in der UN-Menschenrechtskonvention eindeutig geregelt und natürlich auch für Malta, Italien und die gesamte Europäische Union verbindlich. Leider wird schon seit langem immer wieder nicht nach den gesetztlichen Vorgaben gehandelt. Wir meinen, dass die Öffentlichkeit das wissen muss, und wir hoffen, dass Politikerinnen und Politiker in unserem Land diese Informationen nutzen, um die Verantwortlichen zum Handeln zu bringen.

Rogate-Frage: Welche Aufgaben hat das Bündnis United4Rescue und was verbindet es mit der Seawatch-Organisation?

Joachim Lenz: Sea-Watch ist eine Hilfsorganisation, die mit anderen zivilen Seenotrettern wie Sea Eye oder Lifeline Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken bewahrt. Seenotrettung ist eine staatliche Aufgabe, die bis vor gut einem Jahr auch vom europäischen Grenzschutz wahrgenommen wurde; im Rahmen des EU-Projektes „Sophia“ wurden zigtausende Flüchtlinge gerettet. Die zivilen Seenotretter haben das unterstützt. Trotzdem sind seit 2015 weit mehr als 20.000 Menschen an unserer europäischen Grenze ertrunken. Seit langem ist es nun leider so, dass der EU-Grenzschutz es zu vermeiden versucht, auch nur in die Nähe von Flüchtlingsbooten zu kommen. Nur noch die zivilen Seenotretter kommen denen zu Hilfe, die bei ihrer Flucht auf dem Meer unterzugehen drohen. Das Bündnis United4Rescue unterstützt diese Seenotrettung. Wir haben dazu Geld gesammelt und ein ehemaliges Forschungsschiff ersteigert, das als zusätzliches Rettungsschiff unter dem Namen „Sea-Watch 4“ möglichst bald auf Mission gehen soll. Außerdem unterstützen wir Seenotrettungsorganisationen und werben dafür, die zivile Seenotrettung nicht länger zu kriminalisieren. Wir fordern faire Asylverfahren – kurz, wir wollen schlicht, dass geltendes Recht wieder umgesetzt wird. Und den Kommunen, die Gerettete aufnehmen wollen, sollen das als sogenannte Sichere Häfen auch dürfen: Das muss der Bundesinnenminister aber erst rechtlich ermöglichen.

Rogate-Frage: Was entgegnen Sie denen, die behaupten, dass durch die Seenotrettung Anreize für die Flucht von Migranten über das Meer geschaffen werden?

Joachim Lenz: Die hohe Zahl der Toten zeigt, dass Seenotrettung leider nicht sicher funktioniert. Das wissen doch auch die, die sich in unsichere Boote setzen! Es gibt mehrere unabhängige Studien, die den angeblichen „Pull-Effekt“ der Seenotrettung widerlegen. Wer es über lange Fussmärsche an die afrikanische Nordküste geschafft hat und dort in einem KZ-ähnlichen Flüchtlingslager mitten im Bürgerkrieg lebt, versucht Europa zu erreichen – unabhängig davon, ob zivile Rettungsschiffe unterwegs sind. Außerdem: Selbst wenn das Arguemnt stimmen würde (was ich bestreite!), hätten die Menschen dennoch jedes Anrecht auf Rettung! Wer bei uns angetrunken mit seinem Auto Menschen totfährt und sich dabei selbst verletzt, wird doch gerettet und im Krankenhaus versorgt. Menschenrechte wie das Recht auf Leben sind nicht abhängig von irgendwelchen moralischen, politischen oder pädagogischen Überlegungen. Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.

Rogate-Frage: Welche Auswirkungen hat und wird die Corona-Pandemie auf Ihre Arbeit und die Seenotrettung im Mittelmeer haben?

Joachim Lenz: Unser Bündnisschiff, die Sea Watch 4, sollte jetzt eigentlich schon auf See sein. Sie liegt aber im spanischen Burriana, dort konnten die letzten erforderlichen Umbauten nicht fertiggestellt werden, weil Spanien Fabriken und auch Häfen geschlossen hatte. Wir hoffen sehr, dass das Schiff bald losfahren und helfen kann. Wenn Menschen aus Flüchtlingsbooten aufgenommen werden, müssen dann natürlich alle auch bei uns erforderlichen Schutzmaßnahmen eingehalten werden: Das ist aufwändig und erschwert die Hilfe. Noch schlimmer ist aber, dass die Staaten mit sicheren Häfen (vor allem Italien und Malta) die Pandemie zum Anlass genommen haben, die Aufnahme Geretteter erst einmal kategorisch abzulehnen. Dabei kann natürlich auch eine noch so schwierige Situation nicht die Menschenrechte außer Kraft setzen. Wer ehrlich ist, weiß und sagt das auch. Wir setzen darauf, dass die europäische Kommission hier vermittelt und hilft.

Rogate: Vielen Dank, Herr Pfarrer Lenz, für das Gespräch!

Mehr Infos zum Bündnis United4Rescue finden Sie hier. Das Rogate-Kloster wie auch der Förderverein Rogate-Kloster e.V. sind mit fast 400 anderen Organisationen Mitglied im Bündnis.

Weitere Freitagsfragen (Rogate-Kloster Sankt Michael zu Berlin ISSN 2367-3710) – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de

_________________________________________________

Angesichts der Corona-Pandemie können wir leider keine verlässlichen Angaben machen, wann wir wieder zu Rogate-Gottesdiensten und Veranstaltungen wie dem Wangerlandsofa einladen können. Die nächsten geplanten Termine finden Sie hier.

Wangerlandsofa mit Bischof Adomeit: „Warum die Kirchen Seenotrettung wollen“

Der Oldenburger Bischof Thomas Adomeit wird am Donnerstag, 20. Februar 2020, Gast auf dem „Wangerlandsofa“ sein. Die dritte Veranstaltung der Reihe im Walter-Spitta-Haus, Lange Straße 60, 26434 Hooksiel, fragt „Warum sich die Kirchen in der Seenotrettung engagieren“. Adomeit wird zudem über Fluchtursachen und „United 4 Rescue“ referieren. Über 300 Organisationen, Kirchen und Initiativen haben sich dem Bündnis angeschlossen und vor kurzem ein Schiff für die Rettung Geflüchteter im Mittelmeer erworben. Aus der Region haben sich der Kirchenkreis Friesland-Wilhelmshaven, die Kreisdiakonie und die Stiftung Diakonie am Meer angeschlossen.

Fachbereichsleiterin Migration Vanessa Wolf, Diakonie Friesland-Wilhelmshaven, wird die Ausführungen des Bischofs ergänzen. Der von Bruder Franziskus moderierte Abend beginnt um 20 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Das Rogate-Kloster St. Michael, das Diakonische Werk Friesland-Wilhelmshaven, die Ev.-luth. Kirchengemeinde Pakens-Hooksiel und die Katholische Erwachsenenbildung Wilhelmshaven-Friesland Wesermarsch e.V. (KEB) kooperieren seit Herbst 2019 im Demokratie-Projekt „Wangerlandsofa? Hör mal zu!“.

Informationen: wangerlandsofa.de

Seenotrettung: Rogate-Kloster schließt sich Bündnis „United4Rescue“ an

Das Rogate-Kloster ist dem Bündnis „United4Rescue“ beigetreten. Damit stellt sich die ökumenische Gemeinschaft hinter das von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) initiierte Projekt zur Rettung von Menschen in Seenot im Mittelmeer. „Wir unterstützen United4Rescue, weil für uns geistliches Leben mit tätiger Nächstenliebe, dem Einsatz für Gerechtigkeit, Menschenwürde und dem Recht auf Leben einhergeht“, so Br. Franziskus.

Über 300 Organisationen, Landeskirchen, Hochschulen und Kirchengemeinden sind dem im Dezember 2019 gegründeten Bündnis beigetreten. Der Förderverein des Rogate-Klosters gehört seit Ende vergangenen Jahres dazu. Ziel der Engagierten ist es, ein eigenes Schiff zur Rettung von Menschen in Seenot im Mittelmeer einzusetzen. Weitere Informationen: united4rescue

Fünf Fragen an: Petra Weitzel, Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V.

Fünf Fragen an Petra Weitzel, 1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V., über die Trans*-Definition, das Geschlecht als Kontinuum und warum dies ein Thema für Kirche und Gemeinden sein sollte.

2017 Petra Weitzel

Petra Weitzel (Bild: privat)

Petra Weitzel, 57, Dipl. Ing (FH), verheiratet (Lebenspartnerschaft), engagiert sich in der „Projektgemeinde nicht nur für Schwule und Lesben“ in Frankfurt am Main seit 2004. In der Trans*Beratung ist sie seit 2009 tätig. Seit Juli 2017 ist sie 1. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V.

Rogate-Frage: Frau Weitzel, was ist Transidentität und was Transsexualität?

Petra Weitzel: Transsexualität und Transidentität bedeutet für die Träger_innen dieser Eigenschaften das Wissen, nicht oder nicht ganz dem ihnen bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht anzugehören.

Der Begriff Transsexualität wurde von Magnus Hirschfeld, Deutschlands bekanntestem Sexualwissenschaftler um 1920 geprägt und meint, dass Psyche und Körper geschlechtlich verschieden sind, eines davon „trans“ also jenseits vom anderen liegt. Es geht also um das Sein und nicht um das Tun.

Transidentität wurde Mitte der 1980er Jahre von Transidentitas e.V., unserem Vorgängerverein, und Medizinern im Rhein-Main Gebiet geprägt und betont eben genau einen Zustand und nicht sexuelles Handeln, woran bei „transsexuell“ uninformierte Menschen gewöhnlich zuerst denken.

Heute wird Transidentität tendenziell von Fachkräften, die up-to-date sind, häufiger benutzt als Transsexualität. Beispiele sind die Institutsambulanz der Universitätsklinik Frankfurt mit der „Transidenten Sprechstunde“ und zahlreiche Veröffentlichungen von Dr. Udo Rauchfleisch, Dr. Meyenburg und vielen anderen.

Es gibt Menschen, die beide oder einen der Begriffe als Bezeichnung für sich aus sehr unterschiedlichen Gründen ablehnen und deshalb neue Begriffe kreieren oder einfach nur als Mann oder Frau bezeichnet werden wollen. Auf der anderen Seite ist „transident“ nicht exklusiv Menschen vorbehalten, die zum Beispiel eine geschlechtsangleichende Operation wünschen.

Rogate-Frage: Welche Aufgaben hat die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualiät dgti e.V. und wer engagiert sich in ihr?

Petra Weitzel: Die dgti e.V. widmet sich seit 20 Jahren der Beratung transidenter/transsexueller Menschen, der Aufklärung von Pädagogen und Erziehern sowie medizinischem und betreuendem Personal.

Diese Beratung von gleich zu gleich ist eine sozialrechtliche- und Antidiskriminierungsberatung. Hier geht es um alles von A wie „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ bis Z wie „Zuspruch“.

Neu hinzugekommen sind eine umfangreiche Aus- und Fortbildungsreihe für unsere Beratenden sowie Ärzte und Therapeuten und Publikationen und Filmprojekte wie „Reformation für Alle*„, die bestimmte gesellschaftspolitisch relevante Aspekte behandeln, mit dem Ziel, die Akzeptanz transidenter Menschen zu steigern.

Rogate-Frage: Von wie vielen Geschlechtern gehen Sie aus?

Petra Weitzel: Das Geschlecht eines Menschen ist genetisch betrachtet ein Kontinuum. Nicht nur dass das Gehirn unser wichtigstes Geschlechtsorgan ist (nach Prof. Milton Diamond) und zu einem unterschiedlichem Zeitpunkt wie der Rest des Körpers während der Schwangerschaft durch Sexualhormone geprägt wird, sondern auch viele andere Merkmale wie Größe, Körperform und so weiter, sind einer großen Bandbreite unterworfen, die vielen nicht bewusst ist. Das Vorhandensein einer bestimmten statistischen Durchschnittsgröße entsprechenden primärer Geschlechtsmerkmale bei der Geburt, sagt ohne Gentest und ohne dass der betreffende Mensch sich schon äußern könnte, nichts über das Geschlecht dieses Menschen aus.

Schon im Alter von drei Jahren können transidente Kinder merken, dass sie mit der Zuweisung und/oder dem Körper nicht übereinstimmen. In der Pubertät können intergeschlechtliche Menschen sekundäre Geschlechtsmerkmale entwickeln, die sich entgegengesetzt den primären Geschlechtsmerkmalen entwickeln oder sie kommen schon mit nicht eindeutigen Merkmalen auf die Welt.

Wir können daher nur von den Polen männlich und weiblich und jeder möglichen Zwischenstufe mit Bezeichnungen wie zum Beispiel nicht-binär sprechen. Folgerichtig, wenn beide rechtlich vorhandenen Geschlechter tatsächlich auch rechtlich überall gleichgestellt wären, könnten man im Idealfall auf eine „amtliche“ Sortierung des Geschlechts verzichten und damit jeder Person die Freiheit lassen, sich in einer Kategorie wohl zu fühlen oder nicht.

Rogate-Frage: Warum ist Transidentität und Transsexualität Thema für die Kirche?

Petra Weitzel: Kirche, dass sind im Falle der römisch-katholischen und evangelischen Landeskirchen in Deutschland in weltlicher Hinsicht Institutionen, die derzeit circa 60 Prozent der deutschen Bevölkerung auf sich vereinen. Das hat uns veranlasst uns mit der evangelischen Kirche zu beschäftigen, da wir hier schon viele Samenkörner sehen, aus denen etwas gutes wachsen kann.

Kirche ist für alle da. In dem Moment wo sie das nicht ist, hört sie auf Kirche zu sein.

In jeder Kirchengemeinde gibt es welche, die bei Abneigung gegen eine bestimmte Personengruppe, das passende Bibelzitat finden und wenn das nicht klappt, darauf vertrauen, dass ein wörtliches Zitat aus der Bibel, die Unkenntnis des hebräischen Urtextes vorausgesetzt, schon die gewünschte Wirkung hat.

So kommt es, dass uns „Gott schuf Mann und Frau, nach seinem Bilde“, vorgehalten wird. Der zweite Halbsatz wird weggelassen sowie die Tatsache, dass im hebräischen Adam, Mensch bedeutet und es dort männlich UND weiblich heißt. Als männlich und weiblich schuf er sie (die Menschen). Aus dem Urtext ist klar erkennbar: Am Anfang waren die Menschen beides. Etwas später gab Gott diesem Menschen eine Gefährtin. Aber heißt das nun, dass diese beiden Geschöpfe keine Anteile vom jeweils anderen haben dürfen?

reformation-fuer-alle---transidentitaet---transsexualitaet-und-kirche-data (verschoben) Kopie

Cover der Broschüre „Reformation für Alle*“

Hat Gott nur Tag und Nacht geschaffen und Abendrot, Morgendämmerung sowie den Übergang nicht?

Wie könnten diese Geschöpfe zusammenkommen, wäre da keine Seelenverwandtschaft?

Über die Jahrhunderte hat sich die Kirche, seit der Reformation, immer wieder darauf besonnen, dass sie für alle da ist.

Ohne Luther, wo wären da Frauen in der Kirche heute? Die Ordination von Frauen, Segnung und Trauung gleichgeschlechtlicher Paare sind Errungenschaften der letzten 70 Jahre. Mit der Aufklärung nimmt die Inklusion zu. Die Kirche reformiert sich weiter, ecclesia semper reformanda, und dass muss sie auch.

Menschen als krank zu bezeichnen, die eine Eigenschaft haben, die man nicht verstehen kann, das hat in der Geschichte der Menschheit Tradition. Fugitivismus nannte man einst im 19. Jahrhundert die Tendenz von Sklaven, fliehen zu wollen. Es gab bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts christliche Glaubensgemeinschaften, die die Messlatte, wer in der Gemeinde akzeptiert ist, auf der Höhe der Hautfarbe angesiedelt haben. Auch dafür hatte man eine theologisch überzeugende Begründung. Darüber sind wir inzwischen weitestgehend hinweg und dies weist uns Weg.

Niemand hat es sich ausgesucht, transident zu sein. Es wurde uns mitgegeben und wir haben als transidente Menschen die Aufgabe verantwortungsvoll aber eigenverantwortlich damit umzugehen. Gott hat den Menschen die Fähigkeiten verliehen, hier etwas hinzuzulernen und das kann auch dazu benutzt werden den Körper der Seele anzupassen. Gott kann in die Herzen der Menschen hineinsehen und wird es verstehen.

Rogate-Frage: Was wünschen Sie sich von den Kirchen und den Kirchengemeinden?

Petra Weitzel: Das Annehmen des Anderseins als etwas Schönes und Gottgegebenes, dass wäre meine Definition von Reformation im 21. Jahrhundert. Jeder Mensch, gleich welcher Herkunft, Alter, Leistungsfähigkeit, sozialem Status, geschlechtlichem Zustand oder sexueller Orientierung sollte gleich in den Kirchengemeinden willkommen sein. Jeder Mensch ist anders, mal mehr oder weniger offensichtlich. Das zu Begreifen ist eine Herausforderung, aber es gibt einen Lohn dafür, der sich nicht berechnen lässt und sich in Frieden, Freiheit und Glück ausdrückt.

Rogate: Vielen Dank, Frau Weitzel, für das Gespräch.

Weitere Freitagsfragen – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de

In folgenden Youtube-Video kommen Menschen, die mit der Kirche verbunden sind, zum Thema „Kirche und Transsexualität“ zu Wort.  Er wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Reformationsjubiläums gefördert.

_________________________________________________

Willkommen zu unseren öffentlichen Gottesdiensten und Veranstaltungen:

Martin Niemöller: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist…“

 

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Martin Niemöller (1892 – 1984), evangelischer Pastor, ehemaliger Kirchenpräsident von Hessen-Nassau, 1937 – 1945 KZ-Häftling in Dachau.

IMG_7360

Kirchenbänke in der Christus-und Garnisonkirche Wilhelmshaven

Gebet: Fürbitte aus dem Gottesdienst zur Eröffnung des 25. Stadtfestes Berlin 2017

Großer Gott, wir danken Dir, dass wir geladen sind zum Fest des Lebens. Du hast uns gemacht, gestaltet wunderbar und rufst uns bei unserem Namen. Wir sagen Dank für alles Gute und das Gelingende in unserem Leben.

Gemeindevers: Nun lasst uns gehen und treten / mit Singen und mit Beten zum Herrn, der unserm Leben / bis hierher Kraft gegeben. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 58, 1)

20046763_1772848566065337_5335927618255808222_nJesus Christus, unsere Wege kennen Höhen und Tiefen. Du weißt um unsere Schwächen und Stärken. Sei uns gnädig, Du Freund des Lebens.

Wir bitten für alle, die verheiratet oder verpartnert sind – und für die, die nun endlich heiraten dürfen, für die Frauen- und Männerpaare. Segne sie.

Gemeindevers: Wir gehen dahin und wandern / von einem Jahr zum Andern, wir leben und gedeihen / vom Alten bis zum Neuen (Evangelisches Gesangbuch Nr. 58, 2)

Heiliger Geist, Du Tröster. Wir bitten Dich für alle, sich wegen ihrer Homosexualität verstecken müssen: ….in Russland, Uganda, im Iran, Sudan, Somalia, Mauretanien, Nigeria, Libyen, Ägypten – und Tschetschenien.

Du weißt wo geweint und gelitten wird. Erbarme Dich! Schenke Mut und Trost. Werde Anwalt des Lebens – für die Gefolterten.

Gemeindevers: durch so viel Angst und Plagen, / durch Zittern und durch Zagen, durch Krieg und große Schrecken, / die alle Welt bedecken. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 58, 3)

Dreieiniger Gott, wir danken Dir für gute Eltern, die ihre Kinder gut durch das Coming Out bringen und sie vorbehaltlos lieben. Wir danken für unsere Freunde, die mit uns durch Leben gehen und uns vertraut und nahe sind.

Gemeindevers: Denn wie von treuen Müttern / in schweren Ungewittern die Kindlein hier auf Erden / mit Fleiß bewahret werden, (Evangelisches Gesangbuch Nr. 58, 4)

20106769_1777153038968223_7203493836030336510_nGroßer Gott, Du schenkst uns Freiheit. Wir bitten für alle, die in Unfreiheit und in Ausgrenzung leben, weil ihre Identität oder ihr Glaube nicht akzeptiert wird und sie Ausgrenzung, Gewalt und Hass erfahren.

Gemeindevers: also auch und nicht minder / lässt Gott uns, seine Kinder, wenn Not und Trübsal blitzen, / in seinem Schoße sitzen. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 58, 5)

Jesus Christus, schenke unserer Stadt ein sicheres Stadtfest. Schenke Du fröhliche Begegnungen, gesegnete Freundlichkeit und viel gemeinsames Lachen an diesem Wochenende. Lass es zum Fest des Lebens werden. Ein Fest für alle.

Gemeindevers: Ach Hüter unsres Lebens, / fürwahr, es ist vergebens mit unserm Tun und Machen, / wo nicht dein Augen wachen. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 58, 6)

Heiliger Geist, wir danken Dir für das Engagement vieler für eine gerechte, solidarische und lebenswerte Welt. Segne Du die Arbeit der Einrichtungen und Gruppen, die sich für Menschen im Coming Out, für Jugendliche und für Ausgegrenzte einsetzen. Und segne unser Stadtfest an diesem Wochenende, dass es für viele zum Aufbruch in gelingendes Leben und eine bessere Welt werde. Amen.

Gemeindevers: Gelobet sei deine Treue, / die alle Morgen neue; Lob sei den starken Händen, / die alles Herzleid wenden. (Evangelisches Gesangbuch Nr. 58, 7)

Stadtfest-Eröffnung: Grußwort von Margit Gottstein, Staatssekretärin für Verbraucherschutz und Antidiskriminierung

Berlin ist eine Regenbogenstadt – eine Regenbogenhauptstadt, wie wir es als Berliner Landesregierung in unserer Koalitionsvereinbarung 2016 genannt haben. Die Menschen in Berlin sind so wunderbar verschieden: Jung und alt, unterschiedlicher Hautfarbe, ethnischer und sozialer Herkunft. Sie fühlen sich verschiedenen Religionen oder keiner Religion zugehörig, leben mit oder ohne Behinderung. Es sind Frauen, Männer, trans- und intergeschlechtliche Menschen, Lesben, Schwule, Bi- und Heterosexuelle. Sie leben in Partnerschaften, Familien, als Single oder in anderen Lebensformen. Das Zusammenleben in dieser Stadt gelingt, wenn die Menschen aufeinander zugehen, sich gegenseitig respektieren und den Alltag gemeinsam erleben und gestalten.

Bildschirmfoto 2017-07-11 um 23.26.03

Grußwort von Staatssekretärin Margitt Gottstein

Besondere Höhepunkte unseres Zusammenlebens sind Feste, wie das Lesbisch-Schwule Stadtfest, das in diesem Jahr zum 25. Mal stattfindet, und schon zum 8. Mal wird es durch einen Gottesdienst in der Zwölf-Apostel-Kirche eröffnet.

Ich begrüße es sehr, dass die Alt-katholische Kirche signalisiert: Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen sind in Ihrer Gemeinde willkommen und ihre Liebe wird als Gabe Gottes Wert geschätzt. Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare praktizieren Sie seit 2014 und Sie ringen darum, dass sie auch das Sakrament der kirchlichen Trauung erhalten können.

Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften rufen Sie in diesem Jahr mit einer Kampagne des Bündnisses gegen Homophobie alle Religionen und Kirchen unter dem Motto „Traut euch! Traut uns“ dazu auf, mutig zu sein, die lang gehegten Überzeugungen in Bezug auf die heterosexuelle Exklusivität der Ehe endlich den gelebten Realitäten der Menschen anzupassen und die „Trauung für alle“ zu ermöglichen. Die Liebe der einen darf nicht weniger wert angesehen werden als die Liebe der anderen.

Auch auf politischer Ebene haben wir intensiv daran gearbeitet, durch die Öffnung der Ehe alle Paare rechtlich gleich zu stellen – unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit und -identität der Beteiligten. Am 30. Juni hat der Bundestag endlich für die Ehe für Alle gestimmt. Gleiche Rechte und damit verbundene Rituale sind unverzichtbar und unerlässlich. Sie gewährleisten nicht nur die unteilbaren Menschenrechte, sie sind auch von hoher symbolischer Kraft. Selbst wenn sich zum Beispiel ein lesbisches Paar nicht verheiraten möchte, wüssten diese beiden Frauen, sie wären dem Staat und den Kirchen genauso willkommen wie die heterosexuellen Eltern der Schulfreund*innen ihrer Kinder. Ganz bestimmt eine gute Gewissheit für die ganze Familie.

Für eine breite gesellschaftliche Akzeptanz brauchen wir deshalb weiterhin viele Menschen, die sich dafür einsetzen, dass jede und jeder Einzelne ohne Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung und in frei gewählter Lebensform leben kann, in Berlin, der Regenbogenstadt, und ebenso europa- und weltweit. Mit dem Eröffnungsgottesdienst zum Lesbisch-Schwulen Straßenfest tragen Sie die Botschaft weiter: „Religion und Homosexualität schließen sich nicht aus!“ Sie zeigen: Die christliche Liebesbotschaft gilt für alle. Dafür danke ich Ihnen!

Margit Gottstein, Staatssekretärin für Verbraucherschutz und Antidiskriminierung

__________________________________________________________________________

Das Grußwort der Staatssekretärin richtet sich an die Teilnehmenden des folgenden Gottesdienstes:

Freitag, 14. Juli 2017 | 19:30 Uhr, Eröffnungsgottesdienst zum 25. Lesbisch-RogateKl_Aushang A4_Stadtfest2017_111116schwulen Stadtfest Berlin. Predigt: Bischof Dr. Matthias Ring (Katholisches Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland). Predigttext: 1. Petrus 4, 7-10. Weitere Mitwirkende: Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit), Die Schwestern des Hospizdienstes Tauwerk, Dekan Ulf-Martin Schmidt (Alt-Katholische Gemeinde Berlin), Pastorin Dagmar Wegener (Baptistische Gemeinde Schöneberg), Geschäftsführer Jörg Steinert (Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg, LSVD) und Bundestagsabgeordnete Mechthild Rawert (SPD).  Ort: Zwölf-Apostel-Kirche. Orgel: Malte Mevissen. Kirchdienst: Christopher Chandler (Zwölf-Apostel-Gemeinde) und Melanie Hochwald (Rogate-Kloster). Ministranten: Andrea Fleischer, Uta Willers-Urban und Markus Beckmann (alle Rogate-Kloster) sowie Joachim Debes (Alt-katholische Gemeinde Sachsen). Ort: Zwölf-Apostel-Kirche.