Am Morgen nach dem Aufwachen automatisch als erstes zum Handy greifen, Vielleicht hat es Empfang, um zu sehen, ob es neue, schlechte Nachrichten gibt, ob Angehörige noch leben oder wiedergefunden wurden, ob sie fliehen konnten, einen Arzt gefunden haben.
Den Partner, die Kinder, die Verwandten und Freunde nicht mehr sehen, nichts mehr hören von ihnen, viele sind tot. Nächte in Kellern und kaputten Gebäuden verbringen, unruhig schlafen, weil es kalt ist, weil Bomben auf die Straße fallen, in der man seit Jahrzehnten wohnt. Waffenlärm und Alarmsignale erkennen, über Leichen steigen und versuchen, den Kindern all dies zu erklären.
Die Identität verlieren, weil alles, woran man sich orientiert hat, die Wohnung, der Job, die Nachbarn, die liebsten Dinge, die Regeln um einen herum, alles auf einmal weg ist. Alles um sich herum in Trümmern liegen sehen und erkennen, dass der Krieg und die Angst und der Mangel eine Seite aus den Menschen herausholt, die man bei sich selber nicht kannte. Die eine Panik auslöst, die unvorstellbar war und die bei manchen eine Härte hervorholt, die man an sich nie kannte und nie kennen wollte.
Und das Ausgeliefertsein und die Ohnmacht kriecht in die Glieder und legt sich auf die Herzen. Es ist in die Gesichter gezeichnet und es ist zu lesen in den Worten und Gesten derer, die mittendrin waren und sind.
Das ist die Realität, für die Menschen in der Ukraine, und es geschieht auf europäischem Boden, auch wenn wir uns noch vor einem guten Jahr in Sicherheit wähnten und dachten, hier geschieht es nicht.
Aber, hier geschieht es doch, und es geschieht nicht anders als in jedem anderen Krieg zu jeder anderen Zeit und in jedem anderen Land. Menschen gieren nach Macht und Territorien und Ansprüchen und werden darüber größenwahnsinnig, und die, die darunter leiden, das ist die große Mehrheit, die nur verlieren kann im Krieg.
In unseren Büros der Migrationsberatung der Diakonie (Friesland-Wilhelmshaven) spiegeln sich die Krisenherde der Welt und die Zahl der Hilfesuchenden steigt von Jahr zu Jahr. Und dann kommen die Menschen zu uns, die Svitlana und Tatjana und Olga und auch Ali und Aisha und Tzehaie heißen, und sie alle sorgen sich um Freunde und Familie in den Heimatländern, und sie alle kämpfen für ein Leben hier, in dem eigentlich die meisten das Gleiche wollen, egal, wie sie heißen und woher sie kommen… Eine Wohnung, eine Arbeit, eine Familie, Zeit für ein Essen mit Freunden und die Gewissheit, dass der Himmel friedlich ist heute Nacht.
Und wir führen Gespräche, über die Situation in der Ukraine und in vielen anderen Ländern, über die vielen Dinge, die in Deutschland anders sind oder rechtlich kompliziert, und während wir uns durch Berge von Bescheiden, Anträgen und sonstigen Dokumenten arbeiten, und mit Behörden und Ämtern und Schulen und allen möglichen Institutionen sprechen, beeindruckt mich eines am allermeisten: Die Hoffnung und die Sehnsucht sind offensichtlich Dinge, die stärker, resilienter sind, als es scheint. Und die immer wieder zum Vorschein kommen. Und die auch geflüchtete Menschen nach furchtbaren Erlebnissen dazu bringen, wieder neu zu streben nach genau diesen Dingen, nach einem Zuhause, nach Bildung, nach Freundschaft, nach Glück.
Vor ein paar Wochen kam eine Ukrainerin zu mir ins Büro und erzählte, das in ihrem Heimatort Freunde von ihr eine Fußballmannschaft für Kinder und Jugendliche gegründet haben, damit diese Ablenkung vom Kriegsgeschehen bekommen. Und dass es schwierig wäre, derzeit an Bälle und Ausrüstung zu kommen, ob ich helfen könnte. Ich habe den Jugendwart des örtlichen Fußballvereines hier angeschrieben, und der war sofort bereit zu helfen – wenig später hatte der Verein hier Bälle, Trikots und Ausrüstung in großen Kartons verpackt und mit dem nächsten Transport, in dem noch Platz war, wurden diese in die Ukraine geschickt. Und zwei Wochen später kam die Ukrainerin wieder in mein Büro und sagte: „Heide, die Sachen sind angekommen und alle haben sich sehr gefreut. Zurzeit ist viel Bombenalarm, deswegen können sie gerade nicht spielen, aber das kommt noch, denn sobald es mit dem Bombenalarm besser ist, werden sie wieder spielen“.
Und dieser Satz hat mich nicht mehr losgelassen.
„Sobald es mit dem Bombenalarm besser ist, werden sie wieder spielen.“
Ich war nie Fußballfan, aber ich bin seitdem uneingeschränkte Anhängerin dieser mir unbekannten Jugendmannschaft einer Kleinstadt zwischen Kiew und Lwiw. Diesen Jugendlichen möchte ich sagen: Euer Durchhaltevermögen und Euer Ziel, bald wieder zu spielen, ist für mich eine Verpflichtung und ein Ansporn. Eine Verpflichtung zur Dankbarkeit, dass ich alles Lebensnotwendige habe und der Himmel über mir friedlich sein wird, wenn ich heute Abend schlafen gehe. Und ein Ansporn, nicht zu verzweifeln, ob der vielen schlimmen Nachrichten, sondern den vielen Menschen, denen ich helfen kann, gerne zu helfen.
Ich bin, zugegeben, trotzdem manchmal müde, und frage mich, warum die Menschen so viel furchtbar Dummes tun. Aber, dann fallen mir wieder die anderen Menschen ein, solche wie Nikita, der Russe, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt, und jetzt für alle Ukrainer dolmetscht, und immer erzählt, wie leid ihm alles Elend tut, was der Krieg anrichtet. Und wie die kleine Darja, die zwar erst sechs ist, aber mir jede Woche stolz neue Wörter auf Deutsch präsentiert. Und wie Tatiana, die jetzt hier arbeitet und sich mit allen Kolleginnen angefreundet hat, die jetzt ihrerseits anfangen, auch anderen Geflüchteten zu helfen, weil durch Tatiana viele Berührungsängste abgebaut wurden, die anfangs da waren. Und wie Hassan, der trotz eigener schwieriger Geschichte jederzeit für alle Leute übersetzt und wie Jasmin, die ohne zu zögern Geld spendet, wo es nötig ist.
Und Gott sei Dank musste ich nicht lange überlegen, ob mir jemand einfällt, der mir Hoffnung gibt, sondern ich könnte jetzt noch eine lange Liste von Namen nennen, von Menschen, die mich zum Lächeln bringen, auch wenn die Gesamtlage schwierig ist, und Sie alle gehören übrigens auch dazu, weil Sie hier sind und innehalten und beten für den Frieden.
Und wenn wir alle gemeinsam weiter nicht aufhören, das Beste zu versuchen, und glauben und lieben und hoffen, im Vertrauen auf den, der gesagt hat, er ist mitten unter uns, dann schaffen wir es sicher auch weiter, uns gegenseitig und die zu tragen, die gerade keine Kraft haben.
Denn, um es mit den Worten der Lyrikerin Hilde Domin zu sagen: „Nicht im Stich lassen, sich nicht und andere nicht. Das ist die Mindestutopie, ohne die es sich nicht lohnt, Mensch zu sein.“
Theologin Heide Grünefeld (Diakonie Friesland-Wilhelmshaven) im ökumenischen Friedensgebet am 28. Februar 2023 in der Sankt Willehad-Kirche Wilhelmshaven. Die Friedensgebete werden getragen von den Gemeinden der St. Willehad-Gemeinde, der Neuapostolischen Kirche, der Banter Kirche und der Luther-Kirche, der Caritas im Dekanat Wilhelmshaven, dem Diakonischen Werk Friesland-Wilhelmshaven und dem Rogate-Kloster Sankt Michael.