Köln, Leipzig, Hamburg – und wir sind auch dabei! Ich könnt Euch gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dieses große Menschenmeer vor mir zu sehen. In 90 Städten und Gemeinden formiert sich allein heute der Protest gegen Rechts und wird auf der Straße sichtbar. Die Deutschlandkarte auf dem Portal „Zusammen gegen Rechts“ ist von Görlitz im Osten Sachsens bis nach Wilhelmshaven an der Nordsee gespickt mit Veranstaltungsorten. Klickt Euch mal durch, das macht Mut!
Das wird aber auch dringend Zeit, dass die sogenannte schweigende Mehrheit sich endlich zu Wort meldet und aufsteht. Viele von uns stehen im Alltag geräuschlos hinter unserer Demokratie, jetzt müssen wir uns vor sie stellen! Bis wir aufgewacht oder besser aufgeschreckt sind, hat es lange gedauert. Wir haben uns über Jahre von rechten Sprüchen einlullen lassen, zu selten Widerspruch geleistet, dem Abdriften in extreme Positionen tatenlos zugesehen. Wir haben uns darauf verlassen, dass wir mehr sind. Jetzt kommt es darauf an, dass wir mehr miteinander sind.
Um uns zu mobilisieren, hat es eines perfiden, menschenverachtenden Plans bedurft, den eine toxische Mischung der extremen Rechten in einem Potsdamer Nobelhotel unverblümt ersonnen hat. Dabei ging es nicht um die Abschiebung von Menschen. Wer so spricht verharmlost die Sache noch! Tatsächlich ging es um die Vertreibung von Millionen von Menschen aus Deutschland allein aufgrund ihrer Herkunft. Nennen wir die Sache beim Namen: Hier ging es in letzter Konsequenz um eine ethnische Säuberung Deutschlands! Und die völkische Vision einer AFD mittendrin! Hier soll unser Grundgesetz und jegliches Menschenrecht mit Füßen getreten werden! Stell Dir bitte einmal vor, es ist Remigration und Du bist dabei. Menschen mit anderer Herkunft und anderen Wurzeln, wer von uns hat sie nicht im Freundeskreis, in der Familie, in der eigenen DNA. Betrifft es auch mich, weil Teile meiner Vorfahren einst aus Polen zuzogen, um als Fremdarbeiter unsere Hafenstadt aus dem Schlick zu heben? Werden wir nach den Plänen dieser Leute bald wieder Stammbäume schreiben müssen und Ariernachweise führen? Und was passiert mit den Unliebsamen und Unbequemen? Was passiert mit uns, die wir der Demokratiefreundlichkeit verdächtigt werden? Wo wohl werden sie uns alle hinschicken wollen? Ich möchte es mir nicht ausmalen. Und ich möchte nicht, dass es nur im Ansatz soweit kommt! Denn das alles ist mit meinem christlichen Menschenbild gar nicht, aber auch überhaupt nicht vereinbar!
Christian Streich hat als Trainer des Fußballbundeslisten SC Freiburg diese Tage ein bemerkenswertes Statement abgegeben. Er begann mit den Worten: Fußballfans sind Bürger und Fußballtrainer sind auch Bürger, darum steht endlich auf, klare Kante…“ In seinem Sinne sage ich: Christen sind Bürgerinnen und Bürger, und ein Kreispfarrer ist auch Bürger! Ich werde immer wieder gefragt, ob sich die Kirche nicht aus der Politik heraushalten sollte. Ja, sage ich, aus der Parteipolitik. Aber bitte nicht aus der Demokratie. Wenn es um die Förderung, in diesem Fall um die Verteidigung unserer demokratischen Freiheit geht, dann stehen die Kirchen als gesellschaftliche Kraft in der Pflicht, sich mit Euch, mit allen Freundinnen und Freunden der Demokratie zu solidarisieren! Dann haben wir es zu verhindern, dass sich Extremisten bei den nächsten Gemeindekirchenratswahlen im März in die Gemeindeleitungen einschleusen und beginnen, unsere Kirchengemeinden zu unterwandern. Jesus hat sich immer konsequent an die Seite derer gestellt, die in der Minderheit waren, unterdrückt oder benachteiligt, weil sie anders gelebt, geliebt oder geglaubt haben. Das ist auch heute unser Auftrag. Als Kirche stehen wir für Vielfalt ein und für eine diverse, freiheitliche Gesellschaft.
Deshalb ist es mir unerträglich, wenn ich vor einer Woche in Oldenburg auf meinem Weg an der dortigen Synagoge vorbeikomme und im Hintergrund das Polizeifahrzeug wahrnehme, dass für die Sicherheit der jüdischen Gemeinde sorgen muss. Ich will, dass das endlich aufhört. Und ich will nicht, dass wir eines schlechten Tages unter Polizeischutz unsere christlichen Gottesdienste feiern müssen. Demokratie sichert Grundrechte: Das Grundrecht auf eine freie Religionsausübung gehört Gott sei Dank dazu!
Und nochmal und zum Schluss: Demokratie lebt vom Mitmachen. Ihr macht es heute vor! Doch mit einem Demo-Demokratie-Wochenende wird es nicht getan sein. Wir brauchen jetzt den langen Atem. Zu weit steckt der braune Wurm schon in unseren demokratischen Früchten, hat sich bis in die Parlamente, auch hier bei uns, hineingefressen. Deshalb braucht es jetzt bürgerschaftliches Engagement und eine große Portion Zivilcourage. Auf der Straße, in der Familie, im Verein, am Arbeitsplatz. Unsere Demokratie muss sich in nächster Zeit Tag für Tag beweisen! Darum: Keine Toleranz für rechte Sprüche, für Geschichtsvergessenheit oder alternative Fakten: #Wi(e)dersprechen für Demokratie, lautet das Motto! Fair aber deutlich. Miteinander statt gegeneinander. Unser Ton macht den Unterschied, der versöhnt, statt spaltet!
In diesem Sinne rufe ich Euch mutmachende Worte unseres Altbundespräsidenten Pfarrer Joachim Gauck zu, gesprochen bei seiner Antrittsrede 2012 und doch (und leider) so aktuell wie nie:
„Wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben. Speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir mit aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken Euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.“
In „unserem Land“ sollen auch alle zu Hause sein können, die hier leben. Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten sind, auch andere Sprachen, andere Traditionen und Kulturen, in einem Staat, der sich immer weniger durch nationale Zugehörigkeit seiner Bürger definieren lässt, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft, in dem nicht ausschließlich die über lange Zeit entstandene Schicksalsgemeinschaft das Gemeinwesen bestimmt, sondern zunehmend das Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren Staat in Europa.
Und wir finden dieses Gemeinsame in diesem unseren Staat in Europa, in dem wir in Freiheit, Frieden und in Solidarität miteinander leben wollen.
Wir wären allerdings schlecht beraten, wenn wir aus Ignoranz oder falsch verstandener Korrektheit vor realen Problemen die Augen verschließen würden. Hierauf hat bereits Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner Rede vor zwölf Jahren eindrücklich und deutlich hingewiesen. Aber in Fragen des Zusammenlebens dürfen wir uns eben nicht letztlich von Ängsten, Ressentiments und negativen Projektionen leiten lassen. Für eine einladende, offene Gesellschaft hat Bundespräsident Christian Wulff in seiner Amtszeit nachhaltige Impulse gegeben. Herr Bundespräsident Wulff, dieses – Ihr – Anliegen wird auch mir beständig am Herzen liegen.
Unsere Verfassung, meine Damen und Herren, spricht allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen, woher sie kommen, woran sie glauben oder welche Sprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch nicht als Sanktion für verweigerte Integration. Unsere Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im Anderen geschwisterlich uns selbst zu sehen: begabt und berechtigt zur Teilhabe wie wir.
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer war der Ansicht, nach den Erschütterungen der Geschichte erwarte speziell uns in Europa eine „wahre Schule“ des Miteinanders auf engstem Raum. „Mit dem Anderen leben, als der Andere des Anderen leben.“ Darin sah er die ethische und politische Aufgabe Europas. Dieses Ja zu Europa gilt es nun ebenfalls zu bewahren. Gerade in Krisenzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das europäische Miteinander ist aber ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar. Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen.
Mit Freude sehe ich auch, dass die Mehrheit der Deutschen diesem europäischen Gedanken wieder und weiter Zukunft gibt. Europa war für meine Generation Verheißung – aufbauend auf abendländischen Traditionen, dem antiken Erbe einer gemeinsamen Rechtsordnung, dem christlichen und jüdischen Erbe. Für meine Enkel ist Europa längst aktuelle Lebenswirklichkeit mit grenzüberschreitender Freiheit und den Chancen und Sorgen einer offenen Gesellschaft. Nicht nur für meine Enkel ist diese Lebenswirklichkeit ein wunderbarer Gewinn.
Wie kann es noch aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel „unser Land“ sagen sollen? Nicht nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen auszugleichen. Das Besondere dieses Systems ist nicht seine Vollkommenheit, sondern dass es sich um ein lernfähiges System handelt.
Neben den Parteien und anderen demokratischen Institutionen existiert aber eine zweite Stütze unserer Demokratie: die aktive Bürgergesellschaft. Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen, auch Teile der digitalen Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie und gleichen Mängel aus. Und: Anders als die Demokratie von Weimar verfügt unser Land über genügend Demokraten, die dem Ungeist von Fanatikern, Terroristen und Mordgesellen wehren. Sie alle bezeugen – aus unterschiedlichen politischen oder religiösen Gründen: Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen, wir stehen zu diesem Land.
Wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben.
Speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir mit aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken Euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben. Die Extremisten anderer politischer Richtungen werden unserer Entschlossenheit in gleicher Weise begegnen. Und auch denjenigen, die unter dem Deckmantel der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen und die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werden wir Einhalt gebieten. Ihnen sagen wir: Die Völker ziehen in die Richtung der Freiheit. Ihr werdet den Zug vielleicht behindern, aber endgültig aufhalten könnt ihr ihn nicht.
Mir macht allerdings auch die Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger zu den demokratischen Institutionen Angst: die geringe Wahlbeteiligung, auch die Geringschätzung oder gar Verachtung von politischem Engagement, von Politik und Politikern. „Was?“, so hören wir es oft im privaten Raum, „Du gehst zur Sitzung eines Ortsvereins?“ „Wie bitte, Du bist aktiv in einer Gewerkschaft?“ Manche finden das dann „uncool“. Ich frage mich manchmal: Wo wäre eigentlich unsere Gesellschaft ohne derlei Aktivitäten?
Wir alle haben nichts von dieser Distanz zwischen Regierenden und Regierten. Meine Bitte an beide, an Regierende wie Regierte, ist: Findet Euch nicht ab mit dieser zunehmenden Distanz. Für die politisch Handelnden heißt das: Redet offen und klar, dann kann verloren gegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden. Den Regierten, unseren Bürgern, muten wir zu: Ihr seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins: Verantwortung zu leben.
Redebeitrag von Kreispfarrer Christian Scheuer (Ev.-luth. Kirchenkreis Friesland-Wilhelmshaven) auf der Kundgebung „So hat es damals auch angefangen. – Friesland und Wilhelmshaven für Demokratie und gegen Rechtsextremismus“ am Sonnabend, 20. Januar 2024, auf dem Valoisplatz in Wilhelmshaven. Laut Polizeiangaben nahmen 2.500 Menschen daran teil. Neben Kirchen, Parteien und Organisationen rief das Rogate-Kloster als Organisator zur Teilnahme daran auf.
Zur Teilnahme an der Kundgebung am 20. Januar 2024 riefen auf: Ev.-luth. Kirchenkreis Friesland-Wilhelmshaven, SPD Wilhelmshaven (Kreisverband und Fraktion im Rat der Stadt), SPD Friesland (Kreisverband), SPD Schortens (Stadtratsfraktion und Ortsverein), CDU Wilhelmshaven (Kreisverband und Stadtratsfraktion), CSD Wilhelmshaven, Gruppe GfW und Grüne im Rat der Stadt Wilhelmshaven, Kreisverband Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Gruppe „DIE BUNTEN“ im Rat der Stadt Wilhelmshaven, Gruppe WIN@WBV, Berner, FDP, FW im Rat der Stadt Wilhelmshaven, WIN@WBV, BUND Wilhelmshaven, NABU WIlhelmshaven, Bündnis gegen Rechts Wilhelmshaven und das Rogate-Kloster Sankt Michael zu Berlin.