Fünf Fragen an: Pfrn. Marion Gardei, Beauftragte für Erinnerungskultur der EKBO

Fünf Freitagsfragen an Marion Gardei, Pfarrerin der EKBO, über vergegenwärtigende Erinnerung als konstitutiver Bestandteil jüdischen und christlichen Glaubens sowie jüngste Schändungen der Gedenkstätte im ehemaligen KZ-Außenlagers Jamlitz-Lieberose.

Bildschirmfoto 2016-05-18 um 18.27.22Marion Gardei ist Beauftragte für Erinnerungskultur der Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Sie studierte evangelische Theologie in Berlin und Judaistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem mit dem EKD-Projekt „Studium in Israel“. Sie war Pfarrerin in der Evangelischen Kirchengemeinde Dahlem. Sie ist Mitherausgeberin der „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Dialog“.

Rogate-Frage: Frau Pfarrerin Gardei, was ist Erinnerungskultur und warum ist sie Aufgabe der Landeskirche?

Marion Gardei: Erinnerungskultur ist die Art und Weise, wie wir uns an Ereignisse der Vergangenheit öffentlich erinnern. Dabei treffen wir als Einzelne oder als Gemeinschaft Entscheidungen – bewußt oder unbewußt -: Was ist uns wichtig und was nicht? In welcher Form wollen wir erinnern? Manches verschwindet aus dem kollektiven Gedächtnis, manches ist ganz präsent.

Kirchliche Erinnerungskultur ist kein Selbstzweck, sondern will der Schuld und Versäumnisse gedenken und die Verantwortung der Kirche benennen, wo sie geschwiegen oder mitgemacht hat, statt sich dem Unrecht entgegen zu stellen. Das geschieht, damit sich solches nicht wiederholt. Den Opfern, die namenlos gemacht wurden, soll eine Stimme gegeben werden. Erinnert werden soll aber auch an Menschen, die protestiert haben gegen Unrecht und Unmenschlichkeit und dafür mit der Freiheit oder mit dem Leben bezahlen mussten.

Auch säkulare Formen des Gedenkens haben ihren Ursprung in der religiösen Praxis: Die jüdisch-christliche Religion ist eigentlich der „Erfinder“ der Erinnerungskultur. In der Bibel gibt es die Weisung „Gedenke“ in vielen Zusammenhängen. In der Bibel werden auch bestimmte Orte zur Erinnerung markiert, Gedächtnisfeste eingesetzt.

In der EKBO ist in den letzten Jahren eine beachtliche Erinnerungs- und Gedenkkultur gewachsen, die nach zeitgemäßen Formen fragt, auch um junge Menschen einzubeziehen. Sie beruft sich bewusst auf ihre biblischen Wurzeln und ist Teil der Glaubenspraxis und des kirchlichen Handeln: Gedenktage wie zum Beispiel der 9. November werden ins Kirchenjahr integriert und liturgisch begangen, Menschen, die aus ihrem christlichen Glauben heraus Widerstand gegen Diktatur und Unrecht leisteten werden als Glaubenszeugen wahrgenommen.

Rogate-Frage: Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Arbeit?

Marion Gardei: Es sind vor allem die beiden großen Diktaturen des vorigen Jahrhunderts, die die kirchliche Erinnerungsarbeit beschäftigen, aber immer bezogen auf die Gegenwart. In einer Zeit, wo es immer weniger Zeitzeugen gibt, gilt es, die Arbeit der kirchlichen Erinnerungsorte in unserer Landeskirche zu stärken und zu koordinieren. Hier wird Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes be-greifbar. Wir entwickeln hier Profile und Lernprogramme für außerschulisches Lernen, aber auch für Erwachsene. Lern- und Erinnerungsorte werden auch durch kirchliches Handeln zu Gedenkorten, an denen auch spirituelle Erfahrungen gemacht werden können. Für die vielen Ehrenamtlichen, die an kirchlichen Gedenkorten arbeiten, biete ich zum Beispiel theologische, pädagogische und historische Aus- und Fortbildungen an.

Mich beschäftigt sehr die Frage, wie wir Jugendlichen zeigen können: „Das was da früher passiert ist, hat auch mit Deinem Leben zu tun“. Ich suche mit anderen zusammen nach neuen Formen der Erinnerungskultur, die Jugendliche nicht als Bildungsobjekte betrachtet, sondern als Gesprächspartner ernst nimmt. Dazu müssen wir bei der Lebenswelt der Jugendlichen heute ansetzen: Wo erleben sie Unterdrückung, Ausgrenzung und Gruppenzwang? Wie schafft man es, auch gegen den Trend zu seinen Überzeugungen zu stehen?

Ein weiterer Teil meiner Arbeit besteht in der Zusammenarbeit mit staatlichen Gedenkstätten, wir entwickeln gemeinsam Vorträge, Bildungsprogramm und Ausstellungen. Auch ökumenische oder interreligiöse Erinnerungsgottesdienste bezogen auf bestimmte Gedenktage, Personen oder Orte gehören zu meinen Aufgaben, hier gilt es liturgische Formen zu entwickeln.

Rogate-Frage: Ist nicht jeder Gottesdienst Erinnerung?

Marion Gardei: Vergegenwärtigende Erinnerung ist konstitutiver Bestandteil jüdischen und christlichen Glaubens. Der Gottesdienst birgt liturgische Elemente des vergegenwärtigenden Erinnerns: Jüdische Menschen feiern das Passahfest, als seien sie persönlich aus Ägypten befreit worden. Christen erfahren beim Abendmahl Jesu Gegenwart, als sei er lebendig unter ihnen. („Das tut zu meinem Gedächtnis“ ) Die Evangelien überliefern die Erinnerung an Jesu Leben, an sein Sterben und seine Auferstehung zu bewahren und damit die Gemeinde daran teil haben kann.

Alle kirchliche Erinnerungskultur hat die Grundlage, dass Gott selbst sich an sein Volk erinnert. Gott erinnert sich zum Beispiel der Not des Volkes in Ägypten: Er hört sein Klagen (2. Mose 3,7 ff), sein Leiden ist ihm nicht gleichgültig, er kennt die Menschen mit Namen, er gibt keines seiner Geschöpfe dem Vergessen preis. „Siehe, in meine Hände habe ich dich gezeichnet“, sagt Gott dem im Exil zweifelnden und leidenden Volk (Jes 49,16). Dass Gott des Menschen gedenkt, erkennen Christen in besonderer Weise in Jesus Christus.

Der Gottesdienst regt zur „Nachahmung Gottes“ an, Menschen sollen in Empathie ihr Engagement für die Entrechteten wahrnehmen… Jeder Gottesdienst erinnert an die Nächstenliebe als höchstes Gebot.

Rogate-Frage: Sie haben die Schändung des Erinnerungsortes KZ-Außenlager Jamlitz-Lieberose in einer Presse-Information verurteilt. Was ist dort passiert? 

Marion Gardei: Zwei Ausstellungstafeln wurden am 10. Mai zerstört, davor wurde der jüdische Friedhof geschändet. Heute, am 18. Mai 2016, haben erneut Unbekannte einen Anschlag auf den Standort des ehemaligen KZ-Außenlagers verübt. Der Anschlag ist also der zweite innerhalb einer Woche. Diesmal wurde die Eingangstafel der Freiluftausstellung des Gedenkortes vollständig zerstört. Die Tafel enthielt grundlegende Informationen über den Holocaust und die Geschichte des ehemaligen KZ-Außenlagers. Der erneute Anschlag hat bei der Evangelischen Kirchengemeinde und bei der Landeskirche Entsetzen und tiefe Abscheu hervorgerufen. Ich finde, die Tat zeigt eine neue Stufe des Hasses und der Gewalt. Wir lassen uns aber davon in unserer kirchlichen Erinnerungsarbeit nicht beirren oder einschüchtern.

Rogate-Frage: Erfahren die Täter durch die Proteste gegen ihr Treiben und die Berichterstattungen über Schändungen von Gedenkstätten nicht Anerkennung und Bestätigung?

Marion Gardei: Ja, das ist eine zweischneidige Sache. Im Fall Jamlitz war es sicher so, dass die Täter durch die Berichterstattung „animiert“ wurden, ohne dass diese natürlich Schuld daran hätte. Wir können doch auch nicht verschweigen, was da geschieht. Wir leben offenbar in einer Zeit, in der rechtsextreme und rechtspopulistische Kräfte wieder erstarken. Unsere kirchliche Erinnerungsarbeit zielt darauf, das zu verhindern, Mut zu machen, gegen den Trend zu leben, gegen Antisemitismus und Intoleranz aufzustehen. Die Anschläge zeigen: Wir müssen noch viel mehr tun. Jetzt erst recht.

Rogate: Vielen Dank, Frau Pfarrerin Gardei, für das Gespräch.

Weitere Informationen über Marion Gardei finden Sie hier.

Weitere Freitagsfragen – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de.

ISSN 2367-3710, Nationales ISSN-Zentrum für Deutschland, Deutsche Nationalbibliothek.

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