Fünf Fragen an: Kathrin Stahl, Fotografin und Projektleiterin „Max ist Marie“

Fünf Freitagsfragen an Kathrin Stahl, Fotografin, über „Mein Sohn ist meine Tochter ist mein Kind“, ein Foto- und Textprojekt-Engagement über und für transidente Menschen. Ein Projekt, das mit einem Fotoshooting mit ihrer Tochter Marie begann, die einmal ihr Sohn war.

Kathrin StahlKathrin Stahl lebt mit ihrem Mann, ihren drei Kindern, Hund und Katze in Hamburg. Als Lifestyle-Fotografin ist sie in ganz Europa unterwegs. Sie liebt Spaziergänge im Wald, Lachen mit ihren Kindern, Abende mit Freunden, Schwimmen und die Sonne.
Mit ihrer freien dokumentarischen Arbeit „Max ist Marie oder mein Sohn ist meine Tochter ist mein Kind“ setzt sie sich dafür ein, dass die Thematik „Transidentität“ aus der Zoo-ähnlichen Exotik befreit und als das Alltägliche wahrgenommen wird, das es ist.

Rogate-Frage: Frau Stahl, Sie haben mit großem Gespür und behutsam das Fotoprojekt „Max ist Marie oder mein Sohn ist meine Tochter ist mein Kind“ ins Leben gerufen. Wie beschreiben Sie es jemandem, der von dem Thema noch nie etwas gehört hat?

Kathrin Stahl: „Max ist Marie“ ist ein Foto- und Text-Projekt für und über transidente Menschen. Es begann mit einem Fotoshooting meiner eigenen Tochter, die bis vor kurzem noch mein Sohn war.

„Max ist Marie“ handelt von Menschen, die im falschen Geschlecht geboren wurden. Menschen, die meist bereits als Kind merkten, dass sie anders sind, als all die anderen Jungs, all die anderen Mädchen, mit denen sie sich eigentlich doch identifizieren sollten. Mit denen sie spielen wollten und es doch nur konnten, wenn sie sich verstellten. Menschen, denen das „Sich-Verstellen“, das „Sich-Anpassen“ an das Geschlecht, in dem sie geboren wurden, ein Lebensmuster wurde, das unbeschreiblich viel Kraft kostet und aus dem sie irgendwann ausbrechen müssen, um überleben zu zu können.

Als Fotografin nähere ich mich dem Thema in Bildern. Ich zeige transidente Menschen in ihrem Umfeld, mit dem was ihnen wichtig ist im Leben. Es sind Menschen jeden Alters. Menschen, die sich mit 16 geoutet haben oder mit 63: „Ich lebe ab sofort als das, was ich bin – nicht mehr als Frau, sondern als Mann; nicht mehr als Mann, sondern als Frau.“
Für „Max ist Marie“ besuche ich transidente Menschen, die diesen Schritt gegangen sind, sei es vor Jahren, sei es vor kurzem. Meine Bilder zeigen die Menschen, die hinter der großen, für viele unbekannten Thematik „Transidentität“ (früher: „Transsexualität“) stehen. Menschen, die ganz normale Leben führen, wie wir alle, die nicht zu etwas Exotischem werden, dadurch, dass sie transident sind. Es sind Menschen, die studiert haben oder nicht, die Familie haben oder alleine leben, die den Trubel der Großstadt lieben oder die Ruhe auf dem Land: Sie alle darf ich für „Max ist Marie“ fotografieren und so in Bildern porträtieren. Die Bilder werden unterstützt von Texten. Sie erzählen mir und uns einerseits von beeindruckenden Lebenswegen, denen wir nur größten Respekt zollen können, andererseits aber auch von Alltäglichem, mit dem wir Menschen uns eben so beschäftigen.
In „Max ist Marie“ geht es mir darum, die trans* Thematik als das “Normale” zu zeigen, das es eben ist. Als etwas, das Menschen, die sich vorher nicht damit beschäftigt haben, verstehen können wollen und sollen. Etwas, das ganz einfach da ist, so wie es ist.

In diesem Projekt habe ich mich für eine schwarz-weiße Bildsprache entschieden. Diese spiegelt unser aller Schwarz-weiß-Denken wider, dass wir manchmal haben, wenn es um ein Anderssein geht. Auch soll nichts ablenken von dem, was wichtig ist und den Menschen ausmacht. Die Texte sollen einfühlsam den Menschen hinter der Geschichte zeigen.

Rogate-Frage: Wie war es, als Sie als Mutter erfuhren, dass ihr Sohn sich in seinem Körper und in seiner Rolle nicht zuhause fühlt? Was hat Ihnen geholfen?

Kathrin Stahl: Vor ein paar Jahren begann unser Kind, von dem wir dachten, es sei unser Sohn, nur noch geschminkt aus dem Haus zu gehen. Zum Ausgehen warf es sich in kurze Röcke und stöckelte auf High Heels davon. Anfangs dachten wir, er wolle uns damit provozieren.
Mit der Zeit wurde uns klar, dass das, was da geschah, mit Provokation nichts zu tun hatte: Unser Sohn war nicht unser Sohn, sondern unsere Tochter. Und das war keine Phase, die sich irgendwann wieder legen würde. Das „Verkleiden“ war kein Verkleiden, sondern das Leben der eigenen Identität. Es war also nicht so, dass wir irgendwann „erfuhren“, dass wir eine Tochter haben; vielmehr war es eine Entwicklung. Es war ein Weg, der uns am Anfang nicht leicht fiel; es gab Momente, in denen ich dachte, „alles hätte so einfach sein können“, nicht nur für uns, sondern besonders für unser Kind. Aber wer sagt denn, dass es einfacher gewesen wäre, wenn unser Sohn unser Sohn geblieben wäre. Es hätte so vieles andere passieren können.
Heute ist dieser Weg einer, den wir eben gehen, der für uns als Familie so vorgesehen war. Einer, der uns bereichert und uns den Blick für das Wesentliche im Leben öffnet. Schmerzvoll ist es, wenn das eigene Kind fast täglich von neuen Verletzungen erzählt. Verletzungen der Seele durch Menschen, die verletzend sind, weil sie kein Interesse daran haben, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das nicht in ihre Welt gehört.

Am meisten hat mir auf diesem Weg Maries Offenheit geholfen. Wir haben viel geredet und tun das noch immer. Weder damals noch heute bin ich zu Beratungsstellen gegangen und war auch nicht in Internetforen unterwegs. Gespräche mit Freunden waren und sind sehr wertvoll, auch und gerade wenn sie sich selber bisher gar nicht mit dem Thema Transidentität befasst haben. Sie lenken den Blick auf das Menschliche, weg vom Thema „Transidentität“ und das ist es doch eigentlich worum es geht.

Rogate-Frage: Was war der Anfang des Fotoprojektes und was macht es mit Ihnen und Ihrer Familie?

Kathrin Stahl: Wir, und insbesondere natürlich unsere Tochter, hatten, seit „Transidentität“ Teil unserer Familie ist, so viel erlebt. So viel Verletzendes musste unsere Tochter erfahren, nicht nur durch Menschen, sondern auch durch Institutionen wie der Krankenkasse.
Es musste doch eine Möglichkeit geben muss, wenigstens etwas Kleines zu bewegen. Der Gedanke, dass man der Welt irgendwie zeigen müsse, wie es Transgender-Menschen (er)geht, ließ mich nicht mehr los. Da Bilder meine Sprache sind, entwickelte sich die Idee zu einem einfühlsamen Fotoprojekt. Unterlegt mit Texten. Anfang des Jahres fragte ich unsere Tochter, was sie davon hielte, wenn ich ein Fotoprojekt zum Thema „Transgender“ machen würde. Ich glaube, Marie freute sich darüber, dass ich mit „ihrem Thema“ derart intensiv auseinander setzen wollte. Gleichzeitig hatte sie Bedenken, dass sich nicht genügend transidente Menschen finden würden, die bereit wären, sich fotografieren und interviewen zu lassen. Und sie hatte Sorge, dass sich das Projekt negativ auf meine Buchungen als Kinder- und Hochzeitsfotografin auswirken könnte.

Wir begannen vorsichtig mit einer Bildstrecke über Marie. Und waren und sind völlig überwältigt von dem, was nach der Veröffentlichung im Blog passierte: In den Stunden danach explodierte mein Maileingang förmlich. Viele „meiner“ Brautpaare schrieben mir wunderschöne anerkennende Zeilen. Es gab Interviewanfragen von verschiedensten Seiten. Über 50 transidente Menschen schrieben mir und möchten unser Projekt mit ihrem Porträt unterstützen. Es gab unzählige Kommentare unter dem Blogeintrag. Kein einziges negatives Wort.
Die Gespräche, die ich bisher mit anderen transidenten Menschen führen durfte, bewegen mich sehr. Sie zeigen mir, wieviel Kraft manche Menschen zum Leben brauchen. Es sind sehr hoffnungsvolle Gespräche mit einem nach vorne gerichteten Blick. Ich bin sehr dankbar dafür, so viel Offenheit erleben zu dürfen. Marie und mich hat das Projekt noch näher zusammen geführt. Der ganzen Familie hilft es, sich noch intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen und besser zu verstehen, was Marie bewegt und wie wir sie unterstützen können.

Rogate-Frage: Wie ist es für Menschen mit transidentem Hintergrund, sich in unserer Gesellschaft zu bewegen? Was könnte gesellschaftlich helfen, um das Thema Transgender besser zu transportieren und um zur Akzeptanz beizutragen?

Kathrin Stahl: Die Menschen, die ich bisher für  „Max ist Marie“ kennenlernen durfte, berichten viel von Unterstützung aus ihrem Umfeld. Auch von völlig unerwarteter Seite bekommen sie Akzeptanz und Anerkennung. Viele Menschen sind offen und neugierig, möchten mehr wissen, fragen nach.

Leider ist aber auch zu häufig die Rede von Freunden, die den Weg nicht mitgehen konnten, von Eltern, die die „Verwandlung“ als persönlichen Angriff verstanden und von ihrem Kind nichts mehr wissen möchten, von Geschwistern, die sich abwendeten. Von Freunden, die den Weg nicht mitgehen konnten. Offensichtlich haben wir Menschen die Tendenz das Anderssein eines Menschen als Bedrohung zu empfinden. Die Abwehr erfolgt in Form von Ausstoßen.
Das Gefühl der Bedrohung entsteht wohl zumeist aus Unwissenheit heraus. Wer glaubt, ein Mann, der „beschließt zur Frau“ zu werden, tue das aus einer freien Entscheidung heraus, kann nicht verstehen, welche Kämpfe in diesem Menschen vor sich gehen. Es fehlt das Wissen, dass transidente Menschen sich diesen Weg nicht ausgesucht haben. Das einzige, was hier helfen kann, ist Aufklärung. Einige transidente Menschen sind auf dem Gebiet der Aufklärung sehr aktiv unterwegs; den meisten aber fehlt die Kraft dazu, da der Kampf um die eigene Identität zuviel Lebensenergie frisst. Die, die Kraft noch haben, kämpfen nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch und vor allem in der Politik: Viel Leiden wird verursacht durch Gesetzestexte, die Behandlungen verweigern, die entwürdigende Gutachten fordern.
Um nur einen kleinen Einblick in einen der Missstände zu geben, möchte ich an dieser Stelle eine der Transfrauen zitieren, die sich von mir für „Max ist Marie“ hat porträtieren lassen: „Das deutsche Gesetz zur Personenstandsänderung ist eine Katastrophe. Es entspricht nicht den Vorgaben der EU. Auch hat das Bundesverfassungsgericht fast das komplette sogenannte Transsexuellengesetz wegen Verfassungswidrigkeit in den meisten Paragraphen für ungültig erklärt und den Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert. Das wurde schon häufig angemahnt und nichts ist passiert. So reicht es bis heute nicht aus, mit den entsprechenden Diagnosen und Indikationen von Ärzten und Psychologen, die für medizinische Massnahmen und operative Eingriffe erforderlich sind, eine Vornamens- und Personenstandsänderung (VÄ/PÄ) vor Gericht amtlich bestätigt zu bekommen. Der Staat benötigt zusätzliche Gutachten, die man in Größenordnungen von bis zu 4000,- EUR selbst bezahlen muss. Die Bedingungen für medizinische Massnahmen, die die Krankenkassen übernehmen und die bereits schon recht restriktiv sind, stehen in keinem Verhältnis zu den Bedingungen für eine VÄ/PÄ. “
Ausnahmslos jeder der transidenten Menschen, mit denen ich bisher geredet habe, erzählt außerdem von Schikanen durch ihre oder seine Krankenkasse. Gesetzlich mögliche, seelisch aber unvertretbare Zeitspannen werden ausgereizt, für das seelische Wohlergehen notwendige Behandlungen werden verweigert. Es ist die Rede von Krankenkassenmitarbeiter, die schikanieren, die auf Paragraphen herumreiten, an Stellen, an denen sie Spielraum hätten. Erzählt wird von Psychologen, die Gutachten nicht rechtzeitig fertig stellen. Von Endokrinologen, die notwendige Medikamente nicht verschreiben. Wieviel Energie der Kampf mit diesen Schikanen kostet, kann man sich nicht vorstellen. Da muss sich ganz viel ändern.

Mit „Max ist Marie“ möchte ich zusammen mit allen transidenten Menschen, die sich an diesem Projekt beteiligen, einen Schritt gehen, um die gesellschaftliche Akzeptanz durch Verständnis zu erhöhen. Unser Projekt soll ein zartes, mitfühlendes sein, fern aller Polemik. Aus den Bildstrecken und Interviews wird ein Bildband entstehen (ein Verleger wird noch gesucht), auch Ausstellungen möchte ich realisieren. Wenn die Bilder und Texte helfen, dass eine Mutter ihr transidentes Kind versteht und es so annehmen kann, wie es ist, dass ein Freund unterstützen kann, weil er die Hintergründe sieht, dass ein Krankenkassenmitarbeiter einen Antrag genehmigt, weil er das Leid und den Menschen hinter dem Antrag sieht, wenn jemand, der sich noch nie mit dem Thema Transidentität beschäftigt hat, neugierig wird auf und offen für Menschen, die diesen Weg gehen (müssen), hat das Projekt das erreicht, was wir uns erhofft haben.

Rogate-Frage: Welche Erfahrungen haben Sie mit der Kirche in dieser Frage gemacht und was wünschen Sie sich von der Kirche?

Kathrin Stahl: Wir sind sehr positiv überrascht von einzelnen Aktionen, die von der Kirche durchgeführt werden, um den Hass auf ein Anderssein zu thematisieren. Sicher werden durch Diskussionskreise Menschen aufgeweckt und mitgenommen, die sonst wohl nicht offen für solche Themen wären.
Ansonsten haben wir eher den Eindruck von einem „Dass nicht sein kann, was nicht sein darf“. Hier würden wir uns natürlich eine klare offene Linie von der Kirche als Gesamtheit wünschen, eine, die in den Gemeinden vertreten wird, die noch mehr Menschen neugierig macht auf die Vielfalt der Menschheit.

Rogate: Vielen Dank, Frau Stahl, für das Gespräch!

Mehr Informationen finden Sie hier: Max ist Marie

Mehr zum Thema hier:

  • Dr. Gerhard Schreiber, Dozent für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt, über Transsexualität als Thema der Theologie, den Variationsreichtum des Lebens und die wirkmächtige, aber problematische Lehre von den Schöpfungsordnungen.
  • Benjamin Melzer, Transgender-Mann und „Men’s Health“-Covermodel, über den Weg von einer Frau zum Mann und die Notwendigkeit, öffentlich zu werden.

Weitere Freitagsfragen – und Antworten – finden Sie hier: Rogatekloster.de

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Willkommen zu unseren nächsten öffentlichen Gottesdiensten in der gastgebenen Ev. Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1, 10783 Berlin-Schöneberg, Lageplan:

  • Sonnabend, 8. November 2014 | 12:00 Uhr, Andacht für Trauernde: Mit Eucharistie Andacht für Trauerndeund Gräbersegnung, Neuer-Zwölf-Apostel-Kirchhof, Werdauer Weg 5, S Schöneberg. Mit der Alt-katholischen Gemeinde Berlin. Organist: Malte Mevissen. Predigt: Dekan Ulf-Martin Schmidt.
  • Dienstag, 11. November 2014 | 19:00 Uhr, VESPER, das Abendgebet, in der Kapelle der Kirche
  • Donnerstag, 13. November 2014 | 19:30 Uhr, KOMPLET, das Nachtgebet, in der Kapelle der Kirche
  • Dienstag, 18. November 2014 | 19:00 Uhr, VESPER, das Abendgebet, in der Kapelle der Kirche

24 Kommentare zu „Fünf Fragen an: Kathrin Stahl, Fotografin und Projektleiterin „Max ist Marie“

  1. Transidentität und Transsexualität meinen unterschiedliches. Das eine bezieht sich, wie der Name bereits sagt, auf Identität, das andere auf den Sexus. Das ist nicht nur ein sprachlicher Unterschied sondern auch das, über was geredet wird, ist unterschiedlich. Während ein transsexuelles Mädchen beispielsweise ein Mädchen ist, das mit vermännlichten Körpermerkmalen geboren wurde, meint Transidentität, dass sich ein Junge als „Mädchen identifiziert“.

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